Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Stimmung nach dem falle des Reiches. die Isokrateer.
in einem epos von dem kampfe der kinder gottes mit den söhnen des
fürsten dieser welt zu ziehen. der troische und der medische krieg, an
denen er seine phantasie genährt hatte, sollte in diesem potenzirten
idealbilde zugleich mit den heiligen sagen seiner heimat verschmolzen
werden. das war ein unterfangen, dem selbst dieser dichter nicht ge-
wachsen war, der doch das epos der weltschöpfung als ersatz einer be-
schreibung des kosmos vollendet hat.

Eine solche zeit der speculation über die voraussetzungen des staat-Die
Isokrateer

lichen lebens, die sich ganz und gar in das utopische verlor, war der
politischen geschichtsschreibung ihrer natur nach abgewandt. es ist
auch kein auch nur leidliches geschichtswerk über die zeitgeschichte in
den beiden nächsten menschenaltern nach dem falle des Reiches ge-
schrieben.7) aber die dichtung mag wol die historie übertreffen: ersetzen
kann sie sie nimmermehr. und die phrasen der sophistik befrie-
digten auf die dauer selbst die bedürfnisse des immer stoffhungrigen
publicums nicht. so werden die führer der Sokratik eben so gut wie
die sophisten von selbst auf die geschichte und die geschichtsschreibung
hingewiesen. Platon und Isokrates lassen beide zumal in ihren späteren
werken erkennen, dass sie über unverächtliche geschichtliche kenntnisse
verfügen. der sophist hat seinen bedeutendsten schülern die historio-
graphie, weltgeschichte und zeitgeschichte, zur aufgabe gestellt; aus
Platons schule ist der verfasser der Politien hervorgegangen. das sind
leistungen, die mit nichten von einander abhängen, sondern den gegen-
satz der lehrer fortsetzen.

Theopompos von Chios hat von seinem rhetorischen lehrer nur die
form entlehnt, mit der er sich getraute sowol Herodotos wie Thukydides
wie Platon zu überwinden. er war sophist geworden, weil er sein vater-
land verloren hatte und benutzte seine kunst mit erfolg dazu eine ein-

7) Xenophons schriftstellerei hat, so wenig originale kraft der mensch besitzt,
doch den grossen vorzug, dass sie ganz auf seinen individuellen erlebnissen und be-
strebungen beruht. da er wissenschaft in keiner form je wirklich begriffen hat, ist
er auch kein historischer forscher, und wenn er geschichte schreibt, so versteht man
diese erst, wenn man seine persönlichen antriebe und zwecke kennt. die Anabasis
ist klärlich eine selbstrechtfertigung. was die Hellenika anlangt, so dürften auch
sie zur rechtfertigung der politik verfasst sein, der es gedient hatte, und weil das
zu verschiedenen zeiten eine verschiedene war, sind sie unmöglich ein einheitliches
werk. möchte doch jemand sich die aufgabe stellen, nicht Hellenika oder Memo-
rabilien oder Agesilaos einzeln zu tractiren, sondern den menschen als menschen
ganz zu erfassen: erst dann können die vielen unbehaglichen probleme der lösung
wirklich entgegengeführt werden.

Stimmung nach dem falle des Reiches. die Isokrateer.
in einem epos von dem kampfe der kinder gottes mit den söhnen des
fürsten dieser welt zu ziehen. der troische und der medische krieg, an
denen er seine phantasie genährt hatte, sollte in diesem potenzirten
idealbilde zugleich mit den heiligen sagen seiner heimat verschmolzen
werden. das war ein unterfangen, dem selbst dieser dichter nicht ge-
wachsen war, der doch das epos der weltschöpfung als ersatz einer be-
schreibung des kosmos vollendet hat.

Eine solche zeit der speculation über die voraussetzungen des staat-Die
Isokrateer

lichen lebens, die sich ganz und gar in das utopische verlor, war der
politischen geschichtsschreibung ihrer natur nach abgewandt. es ist
auch kein auch nur leidliches geschichtswerk über die zeitgeschichte in
den beiden nächsten menschenaltern nach dem falle des Reiches ge-
schrieben.7) aber die dichtung mag wol die historie übertreffen: ersetzen
kann sie sie nimmermehr. und die phrasen der sophistik befrie-
digten auf die dauer selbst die bedürfnisse des immer stoffhungrigen
publicums nicht. so werden die führer der Sokratik eben so gut wie
die sophisten von selbst auf die geschichte und die geschichtsschreibung
hingewiesen. Platon und Isokrates lassen beide zumal in ihren späteren
werken erkennen, daſs sie über unverächtliche geschichtliche kenntnisse
verfügen. der sophist hat seinen bedeutendsten schülern die historio-
graphie, weltgeschichte und zeitgeschichte, zur aufgabe gestellt; aus
Platons schule ist der verfasser der Politien hervorgegangen. das sind
leistungen, die mit nichten von einander abhängen, sondern den gegen-
satz der lehrer fortsetzen.

Theopompos von Chios hat von seinem rhetorischen lehrer nur die
form entlehnt, mit der er sich getraute sowol Herodotos wie Thukydides
wie Platon zu überwinden. er war sophist geworden, weil er sein vater-
land verloren hatte und benutzte seine kunst mit erfolg dazu eine ein-

7) Xenophons schriftstellerei hat, so wenig originale kraft der mensch besitzt,
doch den groſsen vorzug, daſs sie ganz auf seinen individuellen erlebnissen und be-
strebungen beruht. da er wissenschaft in keiner form je wirklich begriffen hat, ist
er auch kein historischer forscher, und wenn er geschichte schreibt, so versteht man
diese erst, wenn man seine persönlichen antriebe und zwecke kennt. die Anabasis
ist klärlich eine selbstrechtfertigung. was die Hellenika anlangt, so dürften auch
sie zur rechtfertigung der politik verfaſst sein, der es gedient hatte, und weil das
zu verschiedenen zeiten eine verschiedene war, sind sie unmöglich ein einheitliches
werk. möchte doch jemand sich die aufgabe stellen, nicht Hellenika oder Memo-
rabilien oder Agesilaos einzeln zu tractiren, sondern den menschen als menschen
ganz zu erfassen: erst dann können die vielen unbehaglichen probleme der lösung
wirklich entgegengeführt werden.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0025" n="15"/><fw place="top" type="header">Stimmung nach dem falle des Reiches. die Isokrateer.</fw><lb/>
in einem epos von dem kampfe der kinder gottes mit den söhnen des<lb/>
fürsten dieser welt zu ziehen. der troische und der medische krieg, an<lb/>
denen er seine phantasie genährt hatte, sollte in diesem potenzirten<lb/>
idealbilde zugleich mit den heiligen sagen seiner heimat verschmolzen<lb/>
werden. das war ein unterfangen, dem selbst dieser dichter nicht ge-<lb/>
wachsen war, der doch das epos der weltschöpfung als ersatz einer be-<lb/>
schreibung des kosmos vollendet hat.</p><lb/>
          <p>Eine solche zeit der speculation über die voraussetzungen des staat-<note place="right">Die<lb/>
Isokrateer</note><lb/>
lichen lebens, die sich ganz und gar in das utopische verlor, war der<lb/>
politischen geschichtsschreibung ihrer natur nach abgewandt. es ist<lb/>
auch kein auch nur leidliches geschichtswerk über die zeitgeschichte in<lb/>
den beiden nächsten menschenaltern nach dem falle des Reiches ge-<lb/>
schrieben.<note place="foot" n="7)">Xenophons schriftstellerei hat, so wenig originale kraft der mensch besitzt,<lb/>
doch den gro&#x017F;sen vorzug, da&#x017F;s sie ganz auf seinen individuellen erlebnissen und be-<lb/>
strebungen beruht. da er wissenschaft in keiner form je wirklich begriffen hat, ist<lb/>
er auch kein historischer forscher, und wenn er geschichte schreibt, so versteht man<lb/>
diese erst, wenn man seine persönlichen antriebe und zwecke kennt. die Anabasis<lb/>
ist klärlich eine selbstrechtfertigung. was die Hellenika anlangt, so dürften auch<lb/>
sie zur rechtfertigung der politik verfa&#x017F;st sein, der es gedient hatte, und weil das<lb/>
zu verschiedenen zeiten eine verschiedene war, sind sie unmöglich ein einheitliches<lb/>
werk. möchte doch jemand sich die aufgabe stellen, nicht Hellenika oder Memo-<lb/>
rabilien oder Agesilaos einzeln zu tractiren, sondern den menschen als menschen<lb/>
ganz zu erfassen: erst dann können die vielen unbehaglichen probleme der lösung<lb/>
wirklich entgegengeführt werden.</note> aber die dichtung mag wol die historie übertreffen: ersetzen<lb/>
kann sie sie nimmermehr. und die phrasen der sophistik befrie-<lb/>
digten auf die dauer selbst die bedürfnisse des immer stoffhungrigen<lb/>
publicums nicht. so werden die führer der Sokratik eben so gut wie<lb/>
die sophisten von selbst auf die geschichte und die geschichtsschreibung<lb/>
hingewiesen. Platon und Isokrates lassen beide zumal in ihren späteren<lb/>
werken erkennen, da&#x017F;s sie über unverächtliche geschichtliche kenntnisse<lb/>
verfügen. der sophist hat seinen bedeutendsten schülern die historio-<lb/>
graphie, weltgeschichte und zeitgeschichte, zur aufgabe gestellt; aus<lb/>
Platons schule ist der verfasser der Politien hervorgegangen. das sind<lb/>
leistungen, die mit nichten von einander abhängen, sondern den gegen-<lb/>
satz der lehrer fortsetzen.</p><lb/>
          <p>Theopompos von Chios hat von seinem rhetorischen lehrer nur die<lb/>
form entlehnt, mit der er sich getraute sowol Herodotos wie Thukydides<lb/>
wie Platon zu überwinden. er war sophist geworden, weil er sein vater-<lb/>
land verloren hatte und benutzte seine kunst mit erfolg dazu eine ein-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0025] Stimmung nach dem falle des Reiches. die Isokrateer. in einem epos von dem kampfe der kinder gottes mit den söhnen des fürsten dieser welt zu ziehen. der troische und der medische krieg, an denen er seine phantasie genährt hatte, sollte in diesem potenzirten idealbilde zugleich mit den heiligen sagen seiner heimat verschmolzen werden. das war ein unterfangen, dem selbst dieser dichter nicht ge- wachsen war, der doch das epos der weltschöpfung als ersatz einer be- schreibung des kosmos vollendet hat. Eine solche zeit der speculation über die voraussetzungen des staat- lichen lebens, die sich ganz und gar in das utopische verlor, war der politischen geschichtsschreibung ihrer natur nach abgewandt. es ist auch kein auch nur leidliches geschichtswerk über die zeitgeschichte in den beiden nächsten menschenaltern nach dem falle des Reiches ge- schrieben. 7) aber die dichtung mag wol die historie übertreffen: ersetzen kann sie sie nimmermehr. und die phrasen der sophistik befrie- digten auf die dauer selbst die bedürfnisse des immer stoffhungrigen publicums nicht. so werden die führer der Sokratik eben so gut wie die sophisten von selbst auf die geschichte und die geschichtsschreibung hingewiesen. Platon und Isokrates lassen beide zumal in ihren späteren werken erkennen, daſs sie über unverächtliche geschichtliche kenntnisse verfügen. der sophist hat seinen bedeutendsten schülern die historio- graphie, weltgeschichte und zeitgeschichte, zur aufgabe gestellt; aus Platons schule ist der verfasser der Politien hervorgegangen. das sind leistungen, die mit nichten von einander abhängen, sondern den gegen- satz der lehrer fortsetzen. Die Isokrateer Theopompos von Chios hat von seinem rhetorischen lehrer nur die form entlehnt, mit der er sich getraute sowol Herodotos wie Thukydides wie Platon zu überwinden. er war sophist geworden, weil er sein vater- land verloren hatte und benutzte seine kunst mit erfolg dazu eine ein- 7) Xenophons schriftstellerei hat, so wenig originale kraft der mensch besitzt, doch den groſsen vorzug, daſs sie ganz auf seinen individuellen erlebnissen und be- strebungen beruht. da er wissenschaft in keiner form je wirklich begriffen hat, ist er auch kein historischer forscher, und wenn er geschichte schreibt, so versteht man diese erst, wenn man seine persönlichen antriebe und zwecke kennt. die Anabasis ist klärlich eine selbstrechtfertigung. was die Hellenika anlangt, so dürften auch sie zur rechtfertigung der politik verfaſst sein, der es gedient hatte, und weil das zu verschiedenen zeiten eine verschiedene war, sind sie unmöglich ein einheitliches werk. möchte doch jemand sich die aufgabe stellen, nicht Hellenika oder Memo- rabilien oder Agesilaos einzeln zu tractiren, sondern den menschen als menschen ganz zu erfassen: erst dann können die vielen unbehaglichen probleme der lösung wirklich entgegengeführt werden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/25
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/25>, abgerufen am 28.03.2024.