Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Die befreiungskriege. Herodotos.
liegt aber zum teil auch an der naivetät des volkes. die grossväter der
Marathonsieger hatten noch die falsche Athena auf dem wagen des
Peisistratos angebetet, und das wunder oder vielmehr der glaube hat an
dem siege über die ungezählten barbaren einen starken anteil. die
Perser des Aischylos haben es vermocht, die geschichte der gegenwart
unmittelbar hinaufzuheben in die reine höhe der sage: das religiöse
festspiel erzählt uns die geschichte in seiner sprache. es ist für den
historiker der die seele der ereignisse sucht die beste quelle für die
schlacht von Salamis. man denke sich aber nur die figur des listen-
reichen mannes, der bei Aischylos im hintergrunde bleibt, in den mittel-
punkt gerückt, so wird die sage vom siege des freien Pallasvolkes zu
der novelle von Themistokles. dem entspricht die gesammte überlieferung
von der älteren geschichte Athens. der bericht über Marathon und über
den ersten aeginetischen krieg ist von der sage in das erhaben typische
stilisirt. auch in dem sturze der tyrannen spürt man das walten der
göttlichen gerechtigkeit wie in der tragoedie. weder Kleisthenes noch
Miltiades tragen individuelle züge. Solon und Peisistratos waren als
personen ganz verblasst; erst die spätere forschung hat jenen auf grund
seiner gedichte, diesen durch die sorgfältige verfolgung bestimmter in-
dizien zu einer person gemacht. dagegen Themistokles ist der rechte
held für die novelle, die nicht müde wird, mit immer neuen stückchen
seine arete zu illustriren. das hat oben eingehende erörterung ge-
funden (I s. 150), und ich habe gezeigt, wie verkehrt es ist, die Themistokles-
legende deshalb für historisch zu halten, weil Thukydides sie erzählt. die
Athener erzeugten in den zwei menschenaltern vor dem peloponnesischen
kriege tragoedie und komoedie: darin liegt, dass sie für die pragmatische
historie noch nicht reif waren. die Athener machten in derselben zeit
aus ihrem ländchen, das kaum eine precäre selbständigkeit errungen
hatte, die herrin des aegeischen meeres und griffen nach der herrscher-
krone von Hellas: darin liegt, dass sie noch keine zeit hatten, geschichte
zu schreiben. sie dachten an das morgen, erfreuten sich des heute: da
vergassen sie des gestern. blickten sie zurück in einem momente der
sammlung, so dankten sie gott für seine hilfe, oder erzählten sich ihre
oder ihrer führer heldentaten, wie es alte soldaten tun. die aristo-
phanischen helden und aristophanischen chorlieder geben die belege für
beides.

Aber Athen zog Ionien in seine kreise. dort waren die geistigen
vorbedingungen für die historie gegeben; es fehlte nur die geschichte.
die lieferte Athen: und so erstand das werk des Herodotos, so unver-Herodotos

Die befreiungskriege. Herodotos.
liegt aber zum teil auch an der naivetät des volkes. die groſsväter der
Marathonsieger hatten noch die falsche Athena auf dem wagen des
Peisistratos angebetet, und das wunder oder vielmehr der glaube hat an
dem siege über die ungezählten barbaren einen starken anteil. die
Perser des Aischylos haben es vermocht, die geschichte der gegenwart
unmittelbar hinaufzuheben in die reine höhe der sage: das religiöse
festspiel erzählt uns die geschichte in seiner sprache. es ist für den
historiker der die seele der ereignisse sucht die beste quelle für die
schlacht von Salamis. man denke sich aber nur die figur des listen-
reichen mannes, der bei Aischylos im hintergrunde bleibt, in den mittel-
punkt gerückt, so wird die sage vom siege des freien Pallasvolkes zu
der novelle von Themistokles. dem entspricht die gesammte überlieferung
von der älteren geschichte Athens. der bericht über Marathon und über
den ersten aeginetischen krieg ist von der sage in das erhaben typische
stilisirt. auch in dem sturze der tyrannen spürt man das walten der
göttlichen gerechtigkeit wie in der tragoedie. weder Kleisthenes noch
Miltiades tragen individuelle züge. Solon und Peisistratos waren als
personen ganz verblaſst; erst die spätere forschung hat jenen auf grund
seiner gedichte, diesen durch die sorgfältige verfolgung bestimmter in-
dizien zu einer person gemacht. dagegen Themistokles ist der rechte
held für die novelle, die nicht müde wird, mit immer neuen stückchen
seine ἀϱετή zu illustriren. das hat oben eingehende erörterung ge-
funden (I s. 150), und ich habe gezeigt, wie verkehrt es ist, die Themistokles-
legende deshalb für historisch zu halten, weil Thukydides sie erzählt. die
Athener erzeugten in den zwei menschenaltern vor dem peloponnesischen
kriege tragoedie und komoedie: darin liegt, daſs sie für die pragmatische
historie noch nicht reif waren. die Athener machten in derselben zeit
aus ihrem ländchen, das kaum eine precäre selbständigkeit errungen
hatte, die herrin des aegeischen meeres und griffen nach der herrscher-
krone von Hellas: darin liegt, daſs sie noch keine zeit hatten, geschichte
zu schreiben. sie dachten an das morgen, erfreuten sich des heute: da
vergaſsen sie des gestern. blickten sie zurück in einem momente der
sammlung, so dankten sie gott für seine hilfe, oder erzählten sich ihre
oder ihrer führer heldentaten, wie es alte soldaten tun. die aristo-
phanischen helden und aristophanischen chorlieder geben die belege für
beides.

Aber Athen zog Ionien in seine kreise. dort waren die geistigen
vorbedingungen für die historie gegeben; es fehlte nur die geschichte.
die lieferte Athen: und so erstand das werk des Herodotos, so unver-Herodotos

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0019" n="9"/><fw place="top" type="header">Die befreiungskriege. Herodotos.</fw><lb/>
liegt aber zum teil auch an der naivetät des volkes. die gro&#x017F;sväter der<lb/>
Marathonsieger hatten noch die falsche Athena auf dem wagen des<lb/>
Peisistratos angebetet, und das wunder oder vielmehr der glaube hat an<lb/>
dem siege über die ungezählten barbaren einen starken anteil. die<lb/>
Perser des Aischylos haben es vermocht, die geschichte der gegenwart<lb/>
unmittelbar hinaufzuheben in die reine höhe der sage: das religiöse<lb/>
festspiel erzählt uns die geschichte in seiner sprache. es ist für den<lb/>
historiker der die seele der ereignisse sucht die beste quelle für die<lb/>
schlacht von Salamis. man denke sich aber nur die figur des listen-<lb/>
reichen mannes, der bei Aischylos im hintergrunde bleibt, in den mittel-<lb/>
punkt gerückt, so wird die sage vom siege des freien Pallasvolkes zu<lb/>
der novelle von Themistokles. dem entspricht die gesammte überlieferung<lb/>
von der älteren geschichte Athens. der bericht über Marathon und über<lb/>
den ersten aeginetischen krieg ist von der sage in das erhaben typische<lb/>
stilisirt. auch in dem sturze der tyrannen spürt man das walten der<lb/>
göttlichen gerechtigkeit wie in der tragoedie. weder Kleisthenes noch<lb/>
Miltiades tragen individuelle züge. Solon und Peisistratos waren als<lb/>
personen ganz verbla&#x017F;st; erst die spätere forschung hat jenen auf grund<lb/>
seiner gedichte, diesen durch die sorgfältige verfolgung bestimmter in-<lb/>
dizien zu einer person gemacht. dagegen Themistokles ist der rechte<lb/>
held für die novelle, die nicht müde wird, mit immer neuen stückchen<lb/>
seine &#x1F00;&#x03F1;&#x03B5;&#x03C4;&#x03AE; zu illustriren. das hat oben eingehende erörterung ge-<lb/>
funden (I s. 150), und ich habe gezeigt, wie verkehrt es ist, die Themistokles-<lb/>
legende deshalb für historisch zu halten, weil Thukydides sie erzählt. die<lb/>
Athener erzeugten in den zwei menschenaltern vor dem peloponnesischen<lb/>
kriege tragoedie und komoedie: darin liegt, da&#x017F;s sie für die pragmatische<lb/>
historie noch nicht reif waren. die Athener machten in derselben zeit<lb/>
aus ihrem ländchen, das kaum eine precäre selbständigkeit errungen<lb/>
hatte, die herrin des aegeischen meeres und griffen nach der herrscher-<lb/>
krone von Hellas: darin liegt, da&#x017F;s sie noch keine zeit hatten, geschichte<lb/>
zu schreiben. sie dachten an das morgen, erfreuten sich des heute: da<lb/>
verga&#x017F;sen sie des gestern. blickten sie zurück in einem momente der<lb/>
sammlung, so dankten sie gott für seine hilfe, oder erzählten sich ihre<lb/>
oder ihrer führer heldentaten, wie es alte soldaten tun. die aristo-<lb/>
phanischen helden und aristophanischen chorlieder geben die belege für<lb/>
beides.</p><lb/>
          <p>Aber Athen zog Ionien in seine kreise. dort waren die geistigen<lb/>
vorbedingungen für die historie gegeben; es fehlte nur die geschichte.<lb/>
die lieferte Athen: und so erstand das werk des Herodotos, so unver-<note place="right">Herodotos</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0019] Die befreiungskriege. Herodotos. liegt aber zum teil auch an der naivetät des volkes. die groſsväter der Marathonsieger hatten noch die falsche Athena auf dem wagen des Peisistratos angebetet, und das wunder oder vielmehr der glaube hat an dem siege über die ungezählten barbaren einen starken anteil. die Perser des Aischylos haben es vermocht, die geschichte der gegenwart unmittelbar hinaufzuheben in die reine höhe der sage: das religiöse festspiel erzählt uns die geschichte in seiner sprache. es ist für den historiker der die seele der ereignisse sucht die beste quelle für die schlacht von Salamis. man denke sich aber nur die figur des listen- reichen mannes, der bei Aischylos im hintergrunde bleibt, in den mittel- punkt gerückt, so wird die sage vom siege des freien Pallasvolkes zu der novelle von Themistokles. dem entspricht die gesammte überlieferung von der älteren geschichte Athens. der bericht über Marathon und über den ersten aeginetischen krieg ist von der sage in das erhaben typische stilisirt. auch in dem sturze der tyrannen spürt man das walten der göttlichen gerechtigkeit wie in der tragoedie. weder Kleisthenes noch Miltiades tragen individuelle züge. Solon und Peisistratos waren als personen ganz verblaſst; erst die spätere forschung hat jenen auf grund seiner gedichte, diesen durch die sorgfältige verfolgung bestimmter in- dizien zu einer person gemacht. dagegen Themistokles ist der rechte held für die novelle, die nicht müde wird, mit immer neuen stückchen seine ἀϱετή zu illustriren. das hat oben eingehende erörterung ge- funden (I s. 150), und ich habe gezeigt, wie verkehrt es ist, die Themistokles- legende deshalb für historisch zu halten, weil Thukydides sie erzählt. die Athener erzeugten in den zwei menschenaltern vor dem peloponnesischen kriege tragoedie und komoedie: darin liegt, daſs sie für die pragmatische historie noch nicht reif waren. die Athener machten in derselben zeit aus ihrem ländchen, das kaum eine precäre selbständigkeit errungen hatte, die herrin des aegeischen meeres und griffen nach der herrscher- krone von Hellas: darin liegt, daſs sie noch keine zeit hatten, geschichte zu schreiben. sie dachten an das morgen, erfreuten sich des heute: da vergaſsen sie des gestern. blickten sie zurück in einem momente der sammlung, so dankten sie gott für seine hilfe, oder erzählten sich ihre oder ihrer führer heldentaten, wie es alte soldaten tun. die aristo- phanischen helden und aristophanischen chorlieder geben die belege für beides. Aber Athen zog Ionien in seine kreise. dort waren die geistigen vorbedingungen für die historie gegeben; es fehlte nur die geschichte. die lieferte Athen: und so erstand das werk des Herodotos, so unver- Herodotos

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/19
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/19>, abgerufen am 18.04.2024.