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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Novelle. das erwachen der subjectivität in Ionien.
ihre göttin ist die himmlische Muse, die tochter des Zeus, die später den
philosophen, Parmenides und Platon, die wahrheit verkündet. dagegen
die Muse der novelle isken pseudea polla legein etumoisin omoia.
irdisch wie sie ist richtet sie ihren sinn auf das menschliche und zwar
auf die gegenwart, aber da sie die sage ablöst, zieht sie zunächst die
götter oder doch die lieben vorfahren in ihre kreise. aber sie hat später
sogar die historischen namen für ihre träger abgeworfen ohne an reiz
zu verlieren. sie verhält sich dann zur sage wie das menandrische lust-
spiel zu der athenischen tragoedie. auf dass sie erstünde, musste der
glaube der väter erschüttert und die freiheit der väter verloren sein.
so ist sie denn ein kind Ioniens aus der zeit der lydischen und per-
sischen fremdherrschaft, aber einmal aufgekommen wandert sie mit der
ionischen cultur hinüber in das mutterland. nun spiegeln sich die
Wikingerzüge und handelsfahrten der Milesier und Phokaeer nicht mehr
in den leiden der heimfahrenden Achaeer und dem zuge der Argo; man
erzählt vielmehr von Bias und Thales, Kroisos und Periandros, Solon
und Themistokles schöne geschichten: aber keineswegs um ihrer grossen
taten willen und des erfolges, den diese für das vaterland hatten, sondern
um ihrer merkwürdigen schicksale und ihrer persönlichen tüchtigkeit
willen, der arete, die bis auf Sokrates keinen moralischen inhalt hat.
geschichtlich lernen wir von der novelle direct kaum etwas, denn ihr
ist nie zu trauen; aber wenn wir ihre träger kennen, so wird der reflex
in der novelle auch ihr geschichtliches bild erhellen. wo das nicht der
fall ist, können wir kaum etwas besseres tun als uns vor dem truge
der zauberin hüten. zum entgelte gibt sie uns ein farbiges bild von dem
denken und empfinden, leben und treiben, wünschen und träumen einer
reichen zeit.

Sage und novelle sind autorlos. das heisst nicht, dass auf denDas er-
wachen der
subjectivität
in Ionien

dichter oder erzähler nichts ankäme, aber sie mischen ihre person nicht
ein und beanspruchen nicht als personen autorität. das ändert sich, als
in Ionien mit dem staate auch die andern autoritäten fielen, die der
menschen wildheit und trotz gebändigt hatten. in der tat, so wie die
alte gesellschaft gewesen war, im mutterlande um 500 noch zumeist war,
hiengen glaube und sitte, religion und staat, das materielle und das
geistige leben so unlösbar mit einander zusammen, dass der einzelne
seinen festen halt hatte, aber auch festgehalten ward. das änderte sich
für den Ionier, als der staat zertrümmert war, und auf dem colonialen
boden war die gesammte cultur immer mehr als eine gemachte denn als
eine gewachsene empfunden worden. nun versagte die macht der auto-

Novelle. das erwachen der subjectivität in Ionien.
ihre göttin ist die himmlische Muse, die tochter des Zeus, die später den
philosophen, Parmenides und Platon, die wahrheit verkündet. dagegen
die Muse der novelle ἴσκεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὅμοια.
irdisch wie sie ist richtet sie ihren sinn auf das menschliche und zwar
auf die gegenwart, aber da sie die sage ablöst, zieht sie zunächst die
götter oder doch die lieben vorfahren in ihre kreise. aber sie hat später
sogar die historischen namen für ihre träger abgeworfen ohne an reiz
zu verlieren. sie verhält sich dann zur sage wie das menandrische lust-
spiel zu der athenischen tragoedie. auf daſs sie erstünde, muſste der
glaube der väter erschüttert und die freiheit der väter verloren sein.
so ist sie denn ein kind Ioniens aus der zeit der lydischen und per-
sischen fremdherrschaft, aber einmal aufgekommen wandert sie mit der
ionischen cultur hinüber in das mutterland. nun spiegeln sich die
Wikingerzüge und handelsfahrten der Milesier und Phokaeer nicht mehr
in den leiden der heimfahrenden Achaeer und dem zuge der Argo; man
erzählt vielmehr von Bias und Thales, Kroisos und Periandros, Solon
und Themistokles schöne geschichten: aber keineswegs um ihrer groſsen
taten willen und des erfolges, den diese für das vaterland hatten, sondern
um ihrer merkwürdigen schicksale und ihrer persönlichen tüchtigkeit
willen, der ἀϱετή, die bis auf Sokrates keinen moralischen inhalt hat.
geschichtlich lernen wir von der novelle direct kaum etwas, denn ihr
ist nie zu trauen; aber wenn wir ihre träger kennen, so wird der reflex
in der novelle auch ihr geschichtliches bild erhellen. wo das nicht der
fall ist, können wir kaum etwas besseres tun als uns vor dem truge
der zauberin hüten. zum entgelte gibt sie uns ein farbiges bild von dem
denken und empfinden, leben und treiben, wünschen und träumen einer
reichen zeit.

Sage und novelle sind autorlos. das heiſst nicht, daſs auf denDas er-
wachen der
subjectivität
in Ionien

dichter oder erzähler nichts ankäme, aber sie mischen ihre person nicht
ein und beanspruchen nicht als personen autorität. das ändert sich, als
in Ionien mit dem staate auch die andern autoritäten fielen, die der
menschen wildheit und trotz gebändigt hatten. in der tat, so wie die
alte gesellschaft gewesen war, im mutterlande um 500 noch zumeist war,
hiengen glaube und sitte, religion und staat, das materielle und das
geistige leben so unlösbar mit einander zusammen, daſs der einzelne
seinen festen halt hatte, aber auch festgehalten ward. das änderte sich
für den Ionier, als der staat zertrümmert war, und auf dem colonialen
boden war die gesammte cultur immer mehr als eine gemachte denn als
eine gewachsene empfunden worden. nun versagte die macht der auto-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/17>, abgerufen am 29.03.2024.