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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Ion und seine söhne.
wenn ich erzählend darlege, wie ich mir die tatsachen geworden denke.
das geeinigte Attika braucht eine organisation, die den formen des ge-
schlechterstaates gemäss in phulas phulaxai und obas obaxai be-
stehen muss. über das prinzip hat man sich geeinigt, ganz wie durch
die rhetra in Sparta. die ausführung wird gemacht wie 507; man
fragt den gott, und ein staatsmann, der ihm soufflirt, wird auch diesmal
nicht gefehlt haben. der gott sagt "ihr habt vergessen meines lieben
sohnes Ion und seiner vier söhne, die doch zuerst euer volk zusammen
wohnen gelehrt haben (sunokisan sagt auch Aristoteles), durch sie seid
ihr meine kinder, und wenn ihr nach ihnen euch gliedert, wird es euch
wol ergehen." und so führen die Athener die vierteilung durch und
darunter die zwölfteilung; es ist ein ganz äusserlicher auf die verwaltung
berechneter schematismus, das leben war und ist nur in den einzelnen
gliedern, den geschlechtern und allenfalls den phratrien.

Wenn der gott auf Ion geriet, so war darin ausgesprochen, dass
die Athener den Ioniern verwandt waren, die also ein deutlich erkenn-
barer volksbegriff sein mussten. wenn anders der gott a und e unter-
scheiden konnte, musste er das wissen; wer weiss, ob es so sehr viel früher
war als die entstehung der hesiodischen Kataloge. auf die vier phylen
als etwas allgemein ionisches konnte freilich der gott nicht verfallen, da sie
das nicht sind 31), sondern er musste sie aus einer einzelnen stadt nehmen,
und nahm sie aus Milet; wenn er Ephesos oder Chios gewählt hätte, würde
ganz etwas anderes heraus gekommen sein. Milet aber war nicht nur
die erste stadt Ioniens und dem Apollon besonders wert, sondern auch
wirklich mit Athen in einigen beziehungen. sobald Ionier und Athener
sich ihrer verwandtschaft bewusst wurden, musste das sich ihnen so dar-
stellen, dass die stadt der autochthonen den vorrang des alters vor den
colonien erhielt und mehr oder minder ihre mutterstadt ward. wenn es
trotzdem nur zu der erzählung gekommen ist, dass die Ionier über
Athen gezogen wären, aber eigentlich aus dem Peloponnese stammten,
so kann in wahrheit an der attischen colonisation nur herzlich wenig
sein. es ist unvermeidlich, dass auch ein par Athener unter den colo-
nisten gewesen sind, Rhamnusier und Thorikier auch, (den staat
Attika gab es noch nicht), aber die gentilicischen verbindungen fehlen

'ionisch', d. h. bei dem volke verbreitet, zu dem die Athener und die Ionier
Asiens gehören. aber der gott der Apaturien ist keineswegs immer und überall
derselbe, und er ist nicht einmal in Athen der pythische Apollon.
31) Die verbreitete ansicht, dass die vierzahl für Ionien charakteristisch sei,
ist gar nichts als die verallgemeinerung der vier attischen phylen.

Ion und seine söhne.
wenn ich erzählend darlege, wie ich mir die tatsachen geworden denke.
das geeinigte Attika braucht eine organisation, die den formen des ge-
schlechterstaates gemäſs in φυλὰς φυλάξαι und ὠβὰς ὠβάξαι be-
stehen muſs. über das prinzip hat man sich geeinigt, ganz wie durch
die rhetra in Sparta. die ausführung wird gemacht wie 507; man
fragt den gott, und ein staatsmann, der ihm soufflirt, wird auch diesmal
nicht gefehlt haben. der gott sagt “ihr habt vergessen meines lieben
sohnes Ion und seiner vier söhne, die doch zuerst euer volk zusammen
wohnen gelehrt haben (συνῴκισαν sagt auch Aristoteles), durch sie seid
ihr meine kinder, und wenn ihr nach ihnen euch gliedert, wird es euch
wol ergehen.” und so führen die Athener die vierteilung durch und
darunter die zwölfteilung; es ist ein ganz äuſserlicher auf die verwaltung
berechneter schematismus, das leben war und ist nur in den einzelnen
gliedern, den geschlechtern und allenfalls den phratrien.

Wenn der gott auf Ion geriet, so war darin ausgesprochen, daſs
die Athener den Ioniern verwandt waren, die also ein deutlich erkenn-
barer volksbegriff sein muſsten. wenn anders der gott a und e unter-
scheiden konnte, muſste er das wissen; wer weiſs, ob es so sehr viel früher
war als die entstehung der hesiodischen Kataloge. auf die vier phylen
als etwas allgemein ionisches konnte freilich der gott nicht verfallen, da sie
das nicht sind 31), sondern er muſste sie aus einer einzelnen stadt nehmen,
und nahm sie aus Milet; wenn er Ephesos oder Chios gewählt hätte, würde
ganz etwas anderes heraus gekommen sein. Milet aber war nicht nur
die erste stadt Ioniens und dem Apollon besonders wert, sondern auch
wirklich mit Athen in einigen beziehungen. sobald Ionier und Athener
sich ihrer verwandtschaft bewuſst wurden, muſste das sich ihnen so dar-
stellen, daſs die stadt der autochthonen den vorrang des alters vor den
colonien erhielt und mehr oder minder ihre mutterstadt ward. wenn es
trotzdem nur zu der erzählung gekommen ist, daſs die Ionier über
Athen gezogen wären, aber eigentlich aus dem Peloponnese stammten,
so kann in wahrheit an der attischen colonisation nur herzlich wenig
sein. es ist unvermeidlich, daſs auch ein par Athener unter den colo-
nisten gewesen sind, Rhamnusier und Thorikier auch, (den staat
Attika gab es noch nicht), aber die gentilicischen verbindungen fehlen

‘ionisch’, d. h. bei dem volke verbreitet, zu dem die Athener und die Ionier
Asiens gehören. aber der gott der Apaturien ist keineswegs immer und überall
derselbe, und er ist nicht einmal in Athen der pythische Apollon.
31) Die verbreitete ansicht, daſs die vierzahl für Ionien charakteristisch sei,
ist gar nichts als die verallgemeinerung der vier attischen phylen.
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[141/0151] Ion und seine söhne. wenn ich erzählend darlege, wie ich mir die tatsachen geworden denke. das geeinigte Attika braucht eine organisation, die den formen des ge- schlechterstaates gemäſs in φυλὰς φυλάξαι und ὠβὰς ὠβάξαι be- stehen muſs. über das prinzip hat man sich geeinigt, ganz wie durch die rhetra in Sparta. die ausführung wird gemacht wie 507; man fragt den gott, und ein staatsmann, der ihm soufflirt, wird auch diesmal nicht gefehlt haben. der gott sagt “ihr habt vergessen meines lieben sohnes Ion und seiner vier söhne, die doch zuerst euer volk zusammen wohnen gelehrt haben (συνῴκισαν sagt auch Aristoteles), durch sie seid ihr meine kinder, und wenn ihr nach ihnen euch gliedert, wird es euch wol ergehen.” und so führen die Athener die vierteilung durch und darunter die zwölfteilung; es ist ein ganz äuſserlicher auf die verwaltung berechneter schematismus, das leben war und ist nur in den einzelnen gliedern, den geschlechtern und allenfalls den phratrien. Wenn der gott auf Ion geriet, so war darin ausgesprochen, daſs die Athener den Ioniern verwandt waren, die also ein deutlich erkenn- barer volksbegriff sein muſsten. wenn anders der gott a und e unter- scheiden konnte, muſste er das wissen; wer weiſs, ob es so sehr viel früher war als die entstehung der hesiodischen Kataloge. auf die vier phylen als etwas allgemein ionisches konnte freilich der gott nicht verfallen, da sie das nicht sind 31), sondern er muſste sie aus einer einzelnen stadt nehmen, und nahm sie aus Milet; wenn er Ephesos oder Chios gewählt hätte, würde ganz etwas anderes heraus gekommen sein. Milet aber war nicht nur die erste stadt Ioniens und dem Apollon besonders wert, sondern auch wirklich mit Athen in einigen beziehungen. sobald Ionier und Athener sich ihrer verwandtschaft bewuſst wurden, muſste das sich ihnen so dar- stellen, daſs die stadt der autochthonen den vorrang des alters vor den colonien erhielt und mehr oder minder ihre mutterstadt ward. wenn es trotzdem nur zu der erzählung gekommen ist, daſs die Ionier über Athen gezogen wären, aber eigentlich aus dem Peloponnese stammten, so kann in wahrheit an der attischen colonisation nur herzlich wenig sein. es ist unvermeidlich, daſs auch ein par Athener unter den colo- nisten gewesen sind, Rhamnusier und Thorikier auch, (den staat Attika gab es noch nicht), aber die gentilicischen verbindungen fehlen 30) 31) Die verbreitete ansicht, daſs die vierzahl für Ionien charakteristisch sei, ist gar nichts als die verallgemeinerung der vier attischen phylen. 30) ‘ionisch’, d. h. bei dem volke verbreitet, zu dem die Athener und die Ionier Asiens gehören. aber der gott der Apaturien ist keineswegs immer und überall derselbe, und er ist nicht einmal in Athen der pythische Apollon.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/151>, abgerufen am 24.11.2024.