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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Begriff der quelle. sage.
die seele der hellenischen geschichte redet zu uns von den tagen Homers
und der homerischen helden an. individuelle menschenseelen sind für uns
erst dann kenntlich, wenn sie selbst noch zu uns von ihrem seelenleben
erzählen: die gibt es auf erden nicht vor Amos und Jesaja, Archilochos
und Solon. aber typische menschen, durch dichterkraft zur individua-
lität erhoben, sind schon Jakob und Moses, Agamemnon und Odysseus,
und die historie, die mit ihnen nichts anfangen kann, weil sie mythisch
sind oder geworden sind, ist die rechte schwester der encheiresis na-
turae, die ihrer selber spottet -- mögen sie sich auch alle beide ein-
bilden, heut zu tage zu regieren.

Wenn die methode, aus den urkunden die wahrheit pragmatisch zu
ermitteln, für die alte zeit versagt und überhaupt nur so weit hinauf
berechtigt ist, als die zeiten selbst für eine pragmatische auffassung und
bewahrung des geschehenden reif waren, so muss eine andere methode
gefunden werden, um in die ältere zeit vorzudringen, deren gedächtnis
in anderer weise erhalten ist. auch hier gilt es die quellen zu finden;
die quellen sind nur anderer art. zwar die steine, die der burgen und
tempel und vollends die beschriebenen, und die gräber sind in gleicher
weise unmittelbare zeugen, und es fehlt auch nicht an einzelnen men-
schen, die noch zu uns unmittelbar reden: die hauptquellen der alten
zeit sind die dichter. nur seine poesie hat den menschen Solon im
gedächtnis erhalten, und dass dieser kenntlich ist, gibt auch die möglich-
keit, über sein politisches wirken zu urteilen: das hat Aristoteles be-
griffen. aber die überlieferung im ganzen ist anderer art, und ihr muss
sich notgedrungen die historische methode anpassen. nur so erfahren
wir, was wir wissen können, nur so vermeiden wir die Charybdis, an
jedem wissen zu verzweifeln, weil wir der Skylla, pragmatische fabeln
weiter zu pragmatisiren, entgehn wollen. die quellenkunde für die ältere
zeit ist in wahrheit die einsicht in das werden und die geschichte der
historischen tradition.

Vieler jahrhunderte überlieferung ist nur in der sage niedergelegtSage
und als solche überliefert, sehr verschieden, je nachdem sie sich nur
local von mund zu mund fortpflanzte oder durch die gestaltungskraft
des dichters feste form und weitere verbreitung, dann aber auch ledig-
lich poetischen zwecken dienende umbildung erhielt. an realen persön-
lichkeiten fehlt es fast ganz, und so weit sie zu grunde liegen, verflüch-
tigt sich ihre leiblichkeit. dafür wird die summe einer geschichtlichen
entwickelung gezogen und in idealer umdichtung stilisirt. wenn auch
in der form einer erzählung erfahren wir mit zuverlässigkeit meist nur

Begriff der quelle. sage.
die seele der hellenischen geschichte redet zu uns von den tagen Homers
und der homerischen helden an. individuelle menschenseelen sind für uns
erst dann kenntlich, wenn sie selbst noch zu uns von ihrem seelenleben
erzählen: die gibt es auf erden nicht vor Amos und Jesaja, Archilochos
und Solon. aber typische menschen, durch dichterkraft zur individua-
lität erhoben, sind schon Jakob und Moses, Agamemnon und Odysseus,
und die historie, die mit ihnen nichts anfangen kann, weil sie mythisch
sind oder geworden sind, ist die rechte schwester der encheiresis na-
turae, die ihrer selber spottet — mögen sie sich auch alle beide ein-
bilden, heut zu tage zu regieren.

Wenn die methode, aus den urkunden die wahrheit pragmatisch zu
ermitteln, für die alte zeit versagt und überhaupt nur so weit hinauf
berechtigt ist, als die zeiten selbst für eine pragmatische auffassung und
bewahrung des geschehenden reif waren, so muſs eine andere methode
gefunden werden, um in die ältere zeit vorzudringen, deren gedächtnis
in anderer weise erhalten ist. auch hier gilt es die quellen zu finden;
die quellen sind nur anderer art. zwar die steine, die der burgen und
tempel und vollends die beschriebenen, und die gräber sind in gleicher
weise unmittelbare zeugen, und es fehlt auch nicht an einzelnen men-
schen, die noch zu uns unmittelbar reden: die hauptquellen der alten
zeit sind die dichter. nur seine poesie hat den menschen Solon im
gedächtnis erhalten, und daſs dieser kenntlich ist, gibt auch die möglich-
keit, über sein politisches wirken zu urteilen: das hat Aristoteles be-
griffen. aber die überlieferung im ganzen ist anderer art, und ihr muſs
sich notgedrungen die historische methode anpassen. nur so erfahren
wir, was wir wissen können, nur so vermeiden wir die Charybdis, an
jedem wissen zu verzweifeln, weil wir der Skylla, pragmatische fabeln
weiter zu pragmatisiren, entgehn wollen. die quellenkunde für die ältere
zeit ist in wahrheit die einsicht in das werden und die geschichte der
historischen tradition.

Vieler jahrhunderte überlieferung ist nur in der sage niedergelegtSage
und als solche überliefert, sehr verschieden, je nachdem sie sich nur
local von mund zu mund fortpflanzte oder durch die gestaltungskraft
des dichters feste form und weitere verbreitung, dann aber auch ledig-
lich poetischen zwecken dienende umbildung erhielt. an realen persön-
lichkeiten fehlt es fast ganz, und so weit sie zu grunde liegen, verflüch-
tigt sich ihre leiblichkeit. dafür wird die summe einer geschichtlichen
entwickelung gezogen und in idealer umdichtung stilisirt. wenn auch
in der form einer erzählung erfahren wir mit zuverlässigkeit meist nur

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[5/0015] Begriff der quelle. sage. die seele der hellenischen geschichte redet zu uns von den tagen Homers und der homerischen helden an. individuelle menschenseelen sind für uns erst dann kenntlich, wenn sie selbst noch zu uns von ihrem seelenleben erzählen: die gibt es auf erden nicht vor Amos und Jesaja, Archilochos und Solon. aber typische menschen, durch dichterkraft zur individua- lität erhoben, sind schon Jakob und Moses, Agamemnon und Odysseus, und die historie, die mit ihnen nichts anfangen kann, weil sie mythisch sind oder geworden sind, ist die rechte schwester der encheiresis na- turae, die ihrer selber spottet — mögen sie sich auch alle beide ein- bilden, heut zu tage zu regieren. Wenn die methode, aus den urkunden die wahrheit pragmatisch zu ermitteln, für die alte zeit versagt und überhaupt nur so weit hinauf berechtigt ist, als die zeiten selbst für eine pragmatische auffassung und bewahrung des geschehenden reif waren, so muſs eine andere methode gefunden werden, um in die ältere zeit vorzudringen, deren gedächtnis in anderer weise erhalten ist. auch hier gilt es die quellen zu finden; die quellen sind nur anderer art. zwar die steine, die der burgen und tempel und vollends die beschriebenen, und die gräber sind in gleicher weise unmittelbare zeugen, und es fehlt auch nicht an einzelnen men- schen, die noch zu uns unmittelbar reden: die hauptquellen der alten zeit sind die dichter. nur seine poesie hat den menschen Solon im gedächtnis erhalten, und daſs dieser kenntlich ist, gibt auch die möglich- keit, über sein politisches wirken zu urteilen: das hat Aristoteles be- griffen. aber die überlieferung im ganzen ist anderer art, und ihr muſs sich notgedrungen die historische methode anpassen. nur so erfahren wir, was wir wissen können, nur so vermeiden wir die Charybdis, an jedem wissen zu verzweifeln, weil wir der Skylla, pragmatische fabeln weiter zu pragmatisiren, entgehn wollen. die quellenkunde für die ältere zeit ist in wahrheit die einsicht in das werden und die geschichte der historischen tradition. Vieler jahrhunderte überlieferung ist nur in der sage niedergelegt und als solche überliefert, sehr verschieden, je nachdem sie sich nur local von mund zu mund fortpflanzte oder durch die gestaltungskraft des dichters feste form und weitere verbreitung, dann aber auch ledig- lich poetischen zwecken dienende umbildung erhielt. an realen persön- lichkeiten fehlt es fast ganz, und so weit sie zu grunde liegen, verflüch- tigt sich ihre leiblichkeit. dafür wird die summe einer geschichtlichen entwickelung gezogen und in idealer umdichtung stilisirt. wenn auch in der form einer erzählung erfahren wir mit zuverlässigkeit meist nur Sage

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/15>, abgerufen am 29.03.2024.