Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.I. 2. Herodotos. der gegner im sechsten, noch der tyrannenfurcht im fünften jahrhundertschranken zu setzen, wann immer die geschichte in die chronik gekommen ist, für deren demokratischen ton sie zeugnis ablegt. auch über die quelle des Aristoteles schwindet so jeder zweifel. das minder kundige publicum in Athen hatte die verpflichtung zum tempelbau vergessen, aber dass die Alkmeoniden mit delphischem gelde ihren befreiungszug gemacht hatten, wusste Isokrates in der Antidosis 232.9) Verlaufen waren die dinge also folgendermassen. 548/47 brannte 9) Ihn schreibt Demosthenes Mid. 143 ff. ab; im übrigen hängt er von den reden ab, die für und wider den jungen Alkibiades gehalten oder doch geschrieben waren. hier am stärksten offenbart er seine unkenntnis in der vaterländischen ge- schichte und seine gleichgiltigkeit gegen die geschichtliche wahrheit. 10) Herodot, dem Aristoteles einfach nacherzählt, setzt die belagerung von
Leipsydrion freilich zwischen 514 und 510, aber nach seiner erzählung würde da eigentlich auch der tempelbau zu stehn kommen. es ist zu befürchten, dass er hier wie so oft die einzeln überlieferten ereignisse in einen falschen zeitlichen zusammenhang gerückt hat. denn die drei jahre 513--11 sind sehr knapp für die fülle der ereignisse. die winterlichen kämpfe um Leipsydrion könnten allerfrühestens 513/12 fallen. der sturz der tyrannis ist 510, in der zweiten hälfte des jahres des Harpaktides, 20 thukydideische jahre vor 490, anzusetzen; der verfehlte zug des Anchimolos also 511: denn ein doppeltes phrouran phainein in demselben jahre darf man den Spartiaten wahrlich nicht zutraun. dann muss Kleisthenes 512 sich nach Delphi zurückgezogen, die priester gewonnen, den zuschlag erhalten haben, und die Pythia muss die spartanischen orakelbesucher in demselben jahre noch so oft an die ver- treibung der tyrannen gemahnt haben, dass die widerwillige regierung in Sparta mürbe ward. das ist die eine schwierigkeit. die andere liegt darin, dass die Alk- meoniden bei Leipsydrion unterlegen sind, weil sie gar keinen volksaufstand er- regen konnten. das passt nicht mehr, wenn die schwere zeit der tyrannis nach Hipparchos tode begonnen hatte. das skolion feiert die Alkmeoniden als andres agathoi kai eupatridai: von der schwenkung des hochadlichen zum prostates tou demou ist noch keine rede; eben deshalb war jener zug misglückt. gedichtet kann das lied nicht sein, als die hier beklagte partei siegreich und vollends als demo- kratische siegreich geworden war. es liegt hoffnungslosigkeit darin: die hero- doteische zeitrechnung lässt für eine solche pause der verzweiflung gar keinen raum. I. 2. Herodotos. der gegner im sechsten, noch der tyrannenfurcht im fünften jahrhundertschranken zu setzen, wann immer die geschichte in die chronik gekommen ist, für deren demokratischen ton sie zeugnis ablegt. auch über die quelle des Aristoteles schwindet so jeder zweifel. das minder kundige publicum in Athen hatte die verpflichtung zum tempelbau vergessen, aber daſs die Alkmeoniden mit delphischem gelde ihren befreiungszug gemacht hatten, wuſste Isokrates in der Antidosis 232.9) Verlaufen waren die dinge also folgendermaſsen. 548/47 brannte 9) Ihn schreibt Demosthenes Mid. 143 ff. ab; im übrigen hängt er von den reden ab, die für und wider den jungen Alkibiades gehalten oder doch geschrieben waren. hier am stärksten offenbart er seine unkenntnis in der vaterländischen ge- schichte und seine gleichgiltigkeit gegen die geschichtliche wahrheit. 10) Herodot, dem Aristoteles einfach nacherzählt, setzt die belagerung von
Leipsydrion freilich zwischen 514 und 510, aber nach seiner erzählung würde da eigentlich auch der tempelbau zu stehn kommen. es ist zu befürchten, daſs er hier wie so oft die einzeln überlieferten ereignisse in einen falschen zeitlichen zusammenhang gerückt hat. denn die drei jahre 513—11 sind sehr knapp für die fülle der ereignisse. die winterlichen kämpfe um Leipsydrion könnten allerfrühestens 513/12 fallen. der sturz der tyrannis ist 510, in der zweiten hälfte des jahres des Harpaktides, 20 thukydideische jahre vor 490, anzusetzen; der verfehlte zug des Anchimolos also 511: denn ein doppeltes φϱουϱὰν φαίνειν in demselben jahre darf man den Spartiaten wahrlich nicht zutraun. dann muſs Kleisthenes 512 sich nach Delphi zurückgezogen, die priester gewonnen, den zuschlag erhalten haben, und die Pythia muſs die spartanischen orakelbesucher in demselben jahre noch so oft an die ver- treibung der tyrannen gemahnt haben, daſs die widerwillige regierung in Sparta mürbe ward. das ist die eine schwierigkeit. die andere liegt darin, daſs die Alk- meoniden bei Leipsydrion unterlegen sind, weil sie gar keinen volksaufstand er- regen konnten. das paſst nicht mehr, wenn die schwere zeit der tyrannis nach Hipparchos tode begonnen hatte. das skolion feiert die Alkmeoniden als ἄνδϱες ἀγαϑοὶ καὶ εὐπατϱίδαι: von der schwenkung des hochadlichen zum πϱοστάτης τοῦ δήμου ist noch keine rede; eben deshalb war jener zug misglückt. gedichtet kann das lied nicht sein, als die hier beklagte partei siegreich und vollends als demo- kratische siegreich geworden war. es liegt hoffnungslosigkeit darin: die hero- doteische zeitrechnung läſst für eine solche pause der verzweiflung gar keinen raum. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0048" n="34"/><fw place="top" type="header">I. 2. 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I. 2. Herodotos.
der gegner im sechsten, noch der tyrannenfurcht im fünften jahrhundert
schranken zu setzen, wann immer die geschichte in die chronik gekommen
ist, für deren demokratischen ton sie zeugnis ablegt. auch über die quelle
des Aristoteles schwindet so jeder zweifel. das minder kundige publicum
in Athen hatte die verpflichtung zum tempelbau vergessen, aber daſs die
Alkmeoniden mit delphischem gelde ihren befreiungszug gemacht hatten,
wuſste Isokrates in der Antidosis 232. 9)
Verlaufen waren die dinge also folgendermaſsen. 548/47 brannte
der delphische tempel ab; die Amphiktionen sammelten für den neubau
geld bis in die fernste hellenische diaspora. auf dieses capital hatten es
die Alkmeoniden abgesehn, nachdem ihnen der putsch von Leipsydrion
misglückt war, trotz dem scheinbaren zeugnis des Herodot wahrscheinlich
vor der ermordung des Hipparchos. 10) natürlich bekamen sie den zu-
schlag als bauunternehmer nur, weil sie bessere bedingungen stellten:
wir dürfen das in dem ersatze des gewöhnlichen bruchsteines durch
parischen marmor erblicken, wenn Herodot das auch lediglich als eine
9) Ihn schreibt Demosthenes Mid. 143 ff. ab; im übrigen hängt er von den
reden ab, die für und wider den jungen Alkibiades gehalten oder doch geschrieben
waren. hier am stärksten offenbart er seine unkenntnis in der vaterländischen ge-
schichte und seine gleichgiltigkeit gegen die geschichtliche wahrheit.
10) Herodot, dem Aristoteles einfach nacherzählt, setzt die belagerung von
Leipsydrion freilich zwischen 514 und 510, aber nach seiner erzählung würde da
eigentlich auch der tempelbau zu stehn kommen. es ist zu befürchten, daſs er
hier wie so oft die einzeln überlieferten ereignisse in einen falschen zeitlichen
zusammenhang gerückt hat. denn die drei jahre 513—11 sind sehr knapp für die
fülle der ereignisse. die winterlichen kämpfe um Leipsydrion könnten allerfrühestens
513/12 fallen. der sturz der tyrannis ist 510, in der zweiten hälfte des jahres des
Harpaktides, 20 thukydideische jahre vor 490, anzusetzen; der verfehlte zug des
Anchimolos also 511: denn ein doppeltes φϱουϱὰν φαίνειν in demselben jahre darf man
den Spartiaten wahrlich nicht zutraun. dann muſs Kleisthenes 512 sich nach Delphi
zurückgezogen, die priester gewonnen, den zuschlag erhalten haben, und die Pythia
muſs die spartanischen orakelbesucher in demselben jahre noch so oft an die ver-
treibung der tyrannen gemahnt haben, daſs die widerwillige regierung in Sparta
mürbe ward. das ist die eine schwierigkeit. die andere liegt darin, daſs die Alk-
meoniden bei Leipsydrion unterlegen sind, weil sie gar keinen volksaufstand er-
regen konnten. das paſst nicht mehr, wenn die schwere zeit der tyrannis nach
Hipparchos tode begonnen hatte. das skolion feiert die Alkmeoniden als ἄνδϱες
ἀγαϑοὶ καὶ εὐπατϱίδαι: von der schwenkung des hochadlichen zum πϱοστάτης τοῦ
δήμου ist noch keine rede; eben deshalb war jener zug misglückt. gedichtet kann
das lied nicht sein, als die hier beklagte partei siegreich und vollends als demo-
kratische siegreich geworden war. es liegt hoffnungslosigkeit darin: die hero-
doteische zeitrechnung läſst für eine solche pause der verzweiflung gar keinen raum.
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