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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.

So viele unterschiede auch durch die kleineren verhältnisse, die
gesunkene volkskraft und die immer mehr abgebrauchten phrasen hervor-
gerufen werden: die ähnlichkeit der situation mit 412 nach dem
abfalle der Ionier lässt sich nicht verkennen. damals fand sich eine
menge meist wirklich patriotischer männer darin zusammen, dass sie
frieden und erhaltung der stadt und der landschaft auch um den
preis eines verzichtes auf die grossmachtstellung herbeiführen wollten,
dass sie dazu eine starke beschränkung der ausgaben, ins besondere
der besoldungen, und eine vereinfachung der finanzverwaltung für
nötig hielten, was eine entschiedene einschränkung der demokratie
notwendiger weise in sich schloss. das hat man damals ausgesprochen
und auszuführen versucht, wenn auch vergeblich. man tat es unter
dem rufe, rückkehr zur verfassung der väter, zu Solon und Drakon.
man war ehrlich genug eine verfassungsänderung zu fordern und
zu versuchen, und man wusste genau genug, dass die demokratie
der väter, die doch Solon selber und Homer auch eine demokratie ge-
nannt hatten, von der zur zeit geltenden verfassung recht weit ver-
schieden gewesen war. das wussten die Athener um 355 nur noch sehr
ungenau, wenn auch die vorstellungen in ihren umrissen und nament-
lich die schlagworte dem Isokrates wenigstens nicht entschwunden sein
konnten, der selbst zur partei des Theramenes gehört hatte. den mut,
direct dahin zu drängen, dass die verfassung auch nur auf den zustand
von 403 zurückgeführt würde, hatte niemand. welch geheul der ent-
rüstung würde die radicale meute erhoben haben, wenn man die be-
soldungen auch nur für die volksversammlung hätte beseitigen wollen,
wo die abschaffung der persönlichen steuerfreiheit für athenische bürger,
eines misbrauches, der um so schreiender war, als das privileg oft erb-
lich verliehen ward, auf die stärkste opposition stiess. dennoch ist der
gedanke, ob nicht eine beschränkung der demokratie im sinne der
altvordern angezeigt wäre, selbst dem Isokrates gekommen, und wenn
er ihn, wie zaghaft auch immer, im Areopagitikos behandelt, so kann
man sicher sein, dass der beifall weiter kreise dem redner sicher
war, und in der unterhaltung werden diese, wie man sagte, oli-
garchischen gelüste sich sehr viel offener hervorgewagt haben als in
der brochüre eines litteraten, der manchmal mit der unterströmung,
aber nie gegen den vollen strom der öffentlichen meinung schwamm.

Diese zeit hat Aristoteles in Athen erlebt; dass er auf das öffent-
liche leben, die gerichtsverhandlungen und volksversammlungen sehr
wol geachtet und die politischen brochuren des Isokrates studirt hat,

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.

So viele unterschiede auch durch die kleineren verhältnisse, die
gesunkene volkskraft und die immer mehr abgebrauchten phrasen hervor-
gerufen werden: die ähnlichkeit der situation mit 412 nach dem
abfalle der Ionier läſst sich nicht verkennen. damals fand sich eine
menge meist wirklich patriotischer männer darin zusammen, daſs sie
frieden und erhaltung der stadt und der landschaft auch um den
preis eines verzichtes auf die groſsmachtstellung herbeiführen wollten,
daſs sie dazu eine starke beschränkung der ausgaben, ins besondere
der besoldungen, und eine vereinfachung der finanzverwaltung für
nötig hielten, was eine entschiedene einschränkung der demokratie
notwendiger weise in sich schloſs. das hat man damals ausgesprochen
und auszuführen versucht, wenn auch vergeblich. man tat es unter
dem rufe, rückkehr zur verfassung der väter, zu Solon und Drakon.
man war ehrlich genug eine verfassungsänderung zu fordern und
zu versuchen, und man wuſste genau genug, daſs die demokratie
der väter, die doch Solon selber und Homer auch eine demokratie ge-
nannt hatten, von der zur zeit geltenden verfassung recht weit ver-
schieden gewesen war. das wuſsten die Athener um 355 nur noch sehr
ungenau, wenn auch die vorstellungen in ihren umrissen und nament-
lich die schlagworte dem Isokrates wenigstens nicht entschwunden sein
konnten, der selbst zur partei des Theramenes gehört hatte. den mut,
direct dahin zu drängen, daſs die verfassung auch nur auf den zustand
von 403 zurückgeführt würde, hatte niemand. welch geheul der ent-
rüstung würde die radicale meute erhoben haben, wenn man die be-
soldungen auch nur für die volksversammlung hätte beseitigen wollen,
wo die abschaffung der persönlichen steuerfreiheit für athenische bürger,
eines misbrauches, der um so schreiender war, als das privileg oft erb-
lich verliehen ward, auf die stärkste opposition stieſs. dennoch ist der
gedanke, ob nicht eine beschränkung der demokratie im sinne der
altvordern angezeigt wäre, selbst dem Isokrates gekommen, und wenn
er ihn, wie zaghaft auch immer, im Areopagitikos behandelt, so kann
man sicher sein, daſs der beifall weiter kreise dem redner sicher
war, und in der unterhaltung werden diese, wie man sagte, oli-
garchischen gelüste sich sehr viel offener hervorgewagt haben als in
der brochüre eines litteraten, der manchmal mit der unterströmung,
aber nie gegen den vollen strom der öffentlichen meinung schwamm.

Diese zeit hat Aristoteles in Athen erlebt; daſs er auf das öffent-
liche leben, die gerichtsverhandlungen und volksversammlungen sehr
wol geachtet und die politischen brochuren des Isokrates studirt hat,

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[346/0360] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. So viele unterschiede auch durch die kleineren verhältnisse, die gesunkene volkskraft und die immer mehr abgebrauchten phrasen hervor- gerufen werden: die ähnlichkeit der situation mit 412 nach dem abfalle der Ionier läſst sich nicht verkennen. damals fand sich eine menge meist wirklich patriotischer männer darin zusammen, daſs sie frieden und erhaltung der stadt und der landschaft auch um den preis eines verzichtes auf die groſsmachtstellung herbeiführen wollten, daſs sie dazu eine starke beschränkung der ausgaben, ins besondere der besoldungen, und eine vereinfachung der finanzverwaltung für nötig hielten, was eine entschiedene einschränkung der demokratie notwendiger weise in sich schloſs. das hat man damals ausgesprochen und auszuführen versucht, wenn auch vergeblich. man tat es unter dem rufe, rückkehr zur verfassung der väter, zu Solon und Drakon. man war ehrlich genug eine verfassungsänderung zu fordern und zu versuchen, und man wuſste genau genug, daſs die demokratie der väter, die doch Solon selber und Homer auch eine demokratie ge- nannt hatten, von der zur zeit geltenden verfassung recht weit ver- schieden gewesen war. das wuſsten die Athener um 355 nur noch sehr ungenau, wenn auch die vorstellungen in ihren umrissen und nament- lich die schlagworte dem Isokrates wenigstens nicht entschwunden sein konnten, der selbst zur partei des Theramenes gehört hatte. den mut, direct dahin zu drängen, daſs die verfassung auch nur auf den zustand von 403 zurückgeführt würde, hatte niemand. welch geheul der ent- rüstung würde die radicale meute erhoben haben, wenn man die be- soldungen auch nur für die volksversammlung hätte beseitigen wollen, wo die abschaffung der persönlichen steuerfreiheit für athenische bürger, eines misbrauches, der um so schreiender war, als das privileg oft erb- lich verliehen ward, auf die stärkste opposition stieſs. dennoch ist der gedanke, ob nicht eine beschränkung der demokratie im sinne der altvordern angezeigt wäre, selbst dem Isokrates gekommen, und wenn er ihn, wie zaghaft auch immer, im Areopagitikos behandelt, so kann man sicher sein, daſs der beifall weiter kreise dem redner sicher war, und in der unterhaltung werden diese, wie man sagte, oli- garchischen gelüste sich sehr viel offener hervorgewagt haben als in der brochüre eines litteraten, der manchmal mit der unterströmung, aber nie gegen den vollen strom der öffentlichen meinung schwamm. Diese zeit hat Aristoteles in Athen erlebt; daſs er auf das öffent- liche leben, die gerichtsverhandlungen und volksversammlungen sehr wol geachtet und die politischen brochuren des Isokrates studirt hat,

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/360>, abgerufen am 25.11.2024.