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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
musste. ein hervorragender schüler Platons, ein glänzender schriftsteller,
aber immerhin noch kein berühmter mann, der in der welt trotz seinen
40 jahren noch keine stellung hatte, übernahm den unterricht eines
makedonischen prinzen. dieser war der erbe des königreiches; aber das
erbrecht hatte in Makedonien sehr selten auch den besitz garantirt. das
königreich war durch die energie des Philippos der mächtigste staat
Europas; aber es war keine sicherheit vorhanden, dass seine grösse auf
mehr als auf den beiden augen stand, und die entscheidenden gänge mit
den hellenischen staaten und mit Persien standen noch aus. dass könig
Philippos seinen erben so gut wie möglich zu erziehen bestrebt war,
ehrt ihn gewiss; aber kein junge von vierzehn jahren braucht den ersten
gelehrten der zeit zum erzieher, ja es pflegt der gelehrte für dieses
lebensalter nicht der rechte lehrmeister zu sein.

Da sassen sie nun und lasen mit einander Homer und Euripides,
der trotzige königssohn mit dem ungebändigten löwenhare und löwen-
herzen und der lehrer, der gerade auf der höhe der akme stand, der
überlegene dialektiker, der feind jeder übertreibung, dem jegliche tugend
ein richtiger mittelweg schien. wie haben sie zu einander gestanden?
was hat der knabe gelernt? unsere phantasie kann unmöglich davon
absehen, was beide damals noch nicht waren, aber wenig jahre darauf
geworden sind. uns erscheint in ihnen eine wiedergeburt der schönen
gruppe Chiron und Achilleus. der zukunftkundige sohn des Kronos be-
müht sich durch die töne seiner laute und seiner weisheit die helden-
seele des halbgottes zu sänftigen und zu bändigen und facht damit nur
das feuer der begeisterung an, das diesen hinauslockt in den frühen tod,
in das ewige leben, zur athanatos arete. hier stand der erhabene
prophet der seligkeit des theoretikos bios vor einem schüler, der sich
das evangelium in seine sprache übersetzte und dabei blieb 'im anfang
war die tat'. so ist er hinausgestürmt auf die pfade des Achilleus und
Dionysos, hat der welt neue bahnen gewiesen und sich mitten in einem
verständigen und aufgeklärten jahrhundert den eingang erfochten in das
reich der wunder und der märchen. das hat der lehrer nicht gewollt;
so stand es nicht in seinem Protreptikos, und wenn er auch seinen jugend-
überschwang stark gemildert hatte, so ist Alexandros doch wahrlich nicht
der könig geworden, den die Akademie oder der Peripatos wünschte. und
doch sind seiner seele die flügel gewachsen durch die lehre der weis-
heit: zu diesem adlersjüngling redete sie nicht wie eine taube. das
ungeheure streben zum göttlichen, den ouranios eros, hat ihm der
schüler Platons mitgegeben:

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
muſste. ein hervorragender schüler Platons, ein glänzender schriftsteller,
aber immerhin noch kein berühmter mann, der in der welt trotz seinen
40 jahren noch keine stellung hatte, übernahm den unterricht eines
makedonischen prinzen. dieser war der erbe des königreiches; aber das
erbrecht hatte in Makedonien sehr selten auch den besitz garantirt. das
königreich war durch die energie des Philippos der mächtigste staat
Europas; aber es war keine sicherheit vorhanden, daſs seine gröſse auf
mehr als auf den beiden augen stand, und die entscheidenden gänge mit
den hellenischen staaten und mit Persien standen noch aus. daſs könig
Philippos seinen erben so gut wie möglich zu erziehen bestrebt war,
ehrt ihn gewiſs; aber kein junge von vierzehn jahren braucht den ersten
gelehrten der zeit zum erzieher, ja es pflegt der gelehrte für dieses
lebensalter nicht der rechte lehrmeister zu sein.

Da saſsen sie nun und lasen mit einander Homer und Euripides,
der trotzige königssohn mit dem ungebändigten löwenhare und löwen-
herzen und der lehrer, der gerade auf der höhe der ἀκμή stand, der
überlegene dialektiker, der feind jeder übertreibung, dem jegliche tugend
ein richtiger mittelweg schien. wie haben sie zu einander gestanden?
was hat der knabe gelernt? unsere phantasie kann unmöglich davon
absehen, was beide damals noch nicht waren, aber wenig jahre darauf
geworden sind. uns erscheint in ihnen eine wiedergeburt der schönen
gruppe Chiron und Achilleus. der zukunftkundige sohn des Kronos be-
müht sich durch die töne seiner laute und seiner weisheit die helden-
seele des halbgottes zu sänftigen und zu bändigen und facht damit nur
das feuer der begeisterung an, das diesen hinauslockt in den frühen tod,
in das ewige leben, zur ἀϑάνατος ἀϱετή. hier stand der erhabene
prophet der seligkeit des ϑεωϱητικὸς βίος vor einem schüler, der sich
das evangelium in seine sprache übersetzte und dabei blieb ‘im anfang
war die tat’. so ist er hinausgestürmt auf die pfade des Achilleus und
Dionysos, hat der welt neue bahnen gewiesen und sich mitten in einem
verständigen und aufgeklärten jahrhundert den eingang erfochten in das
reich der wunder und der märchen. das hat der lehrer nicht gewollt;
so stand es nicht in seinem Protreptikos, und wenn er auch seinen jugend-
überschwang stark gemildert hatte, so ist Alexandros doch wahrlich nicht
der könig geworden, den die Akademie oder der Peripatos wünschte. und
doch sind seiner seele die flügel gewachsen durch die lehre der weis-
heit: zu diesem adlersjüngling redete sie nicht wie eine taube. das
ungeheure streben zum göttlichen, den οὐϱάνιος ἔϱως, hat ihm der
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[336/0350] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. muſste. ein hervorragender schüler Platons, ein glänzender schriftsteller, aber immerhin noch kein berühmter mann, der in der welt trotz seinen 40 jahren noch keine stellung hatte, übernahm den unterricht eines makedonischen prinzen. dieser war der erbe des königreiches; aber das erbrecht hatte in Makedonien sehr selten auch den besitz garantirt. das königreich war durch die energie des Philippos der mächtigste staat Europas; aber es war keine sicherheit vorhanden, daſs seine gröſse auf mehr als auf den beiden augen stand, und die entscheidenden gänge mit den hellenischen staaten und mit Persien standen noch aus. daſs könig Philippos seinen erben so gut wie möglich zu erziehen bestrebt war, ehrt ihn gewiſs; aber kein junge von vierzehn jahren braucht den ersten gelehrten der zeit zum erzieher, ja es pflegt der gelehrte für dieses lebensalter nicht der rechte lehrmeister zu sein. Da saſsen sie nun und lasen mit einander Homer und Euripides, der trotzige königssohn mit dem ungebändigten löwenhare und löwen- herzen und der lehrer, der gerade auf der höhe der ἀκμή stand, der überlegene dialektiker, der feind jeder übertreibung, dem jegliche tugend ein richtiger mittelweg schien. wie haben sie zu einander gestanden? was hat der knabe gelernt? unsere phantasie kann unmöglich davon absehen, was beide damals noch nicht waren, aber wenig jahre darauf geworden sind. uns erscheint in ihnen eine wiedergeburt der schönen gruppe Chiron und Achilleus. der zukunftkundige sohn des Kronos be- müht sich durch die töne seiner laute und seiner weisheit die helden- seele des halbgottes zu sänftigen und zu bändigen und facht damit nur das feuer der begeisterung an, das diesen hinauslockt in den frühen tod, in das ewige leben, zur ἀϑάνατος ἀϱετή. hier stand der erhabene prophet der seligkeit des ϑεωϱητικὸς βίος vor einem schüler, der sich das evangelium in seine sprache übersetzte und dabei blieb ‘im anfang war die tat’. so ist er hinausgestürmt auf die pfade des Achilleus und Dionysos, hat der welt neue bahnen gewiesen und sich mitten in einem verständigen und aufgeklärten jahrhundert den eingang erfochten in das reich der wunder und der märchen. das hat der lehrer nicht gewollt; so stand es nicht in seinem Protreptikos, und wenn er auch seinen jugend- überschwang stark gemildert hatte, so ist Alexandros doch wahrlich nicht der könig geworden, den die Akademie oder der Peripatos wünschte. und doch sind seiner seele die flügel gewachsen durch die lehre der weis- heit: zu diesem adlersjüngling redete sie nicht wie eine taube. das ungeheure streben zum göttlichen, den οὐϱάνιος ἔϱως, hat ihm der schüler Platons mitgegeben:

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/350>, abgerufen am 24.11.2024.