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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Der alte Platon.
oder es flüchtet sich die speculation immer tiefer in das reich des
abstractesten denkens; die abstrusen wahngebilde der Pythagoreer, die
realität der zahlen, drängen sich vor die realität der form, des begriffs:
das hexeneinmaleins, der tiefsinn des absurden, steigt wie eine schwarze
wolke an dem aetherklaren himmel dieses attischen geistes auf. dazwischen
aber rafft er sich wieder empor, schaut der wahrheit klar ins auge, dass
er zu hoch gestrebt, der welt zu viel zugemutet habe, und nun mit
bescheideneren formen und in engeren grenzen den neubau versuchen
müsste. so versucht er den neuen staat. auf neuem lande will er ihn
bauen, wie die entsagenden Auswanderer Goethes; aber er schliesst sich
doch dem altheimisch gegebenen weit enger an als vorher. die gesetze
der eigenen vaterstadt studirt er jetzt und findet gar vieles, das er bei-
behalten kann; liebevoll versenkt er sich in die bedürfnisse des lebens,
auch der geringen und der kleinen, sinnt über die kleinkinderschule,
über das lesebuch und den mathematischen unterricht der kinder, pflanzt
bäume und umfriedigt quellen, und verbietet fischefangen und vogel-
stellen, weil es manchen guten gesellen verdirbt. auch über das höchste
sinnt er: die weltgeschichte vermag er als eine fortschreitende ent-
wickelung auch aus der art und lage der siedelungen zu betrachten,
und die beiden wurzeln der gottesverehrung, das rätsel des seelenlebens
und die wunder der gesetzmässigen naturerscheinungen, werden ihm
offenbar.27) so lebt er weiter, lehrt er weiter, schreibt er weiter. es
ist greisenhaft: geras, geras d omos Omerou würde der schriftsteller

gewaltigung, wenn man deswegen die stellen der Gesetze auf rechnung des Phi-
lippos schiebt. hat der keine ehre zu verlieren? sollen wir einen unbescholtenen
zu einem fälscher machen, um dem greisen Platon einen widerspruch zu nehmen,
einen von vielen? die entstehung des bösen konnte er nun doch einmal nicht
erklären, und den schönen mut, es zu negiren, hatte er nicht immer. wenn er im
Staate (379) sich begnügt zu sagen, dass der urheber aller übel jemand oder viel-
mehr etwas anderes als gott sein müsse, so rechnet der Politikos (269) das übel schon
gewissermassen als die der materie innewohnende schwere, die den pendel zurück-
schwingen lässt, wenn die kraft, gottes, die ihn in bewegung gesetzt hat, nach-
lässt. das drückt noch sehr schön das negative aus; aber die materie ist doch schon
etwas reales geworden. wenn nun das wirklich reale und bewegende seele sein
muss, so führt die consequenz des denkens auf eine ungöttliche, also böse welt-
seele. Platon scheute sich vor diesem gedanken, aber wie sollte er ihm nicht ge-
kommen sein? und zuweilen gewann er macht über ihn: dafür sind die partien
der Gesetze ein document, sehr traurig, aber trotz alledem unschätzbar.
27) Ges. XII 966. das hat Aristoteles aufgenommen und kürzer und klarer
gesagt, in dem dialog peri philosophias 10 Rose. natürlich gibt das keine dati-
rung für den dialog: aber er ist schwerlich ein jugendwerk.

Der alte Platon.
oder es flüchtet sich die speculation immer tiefer in das reich des
abstractesten denkens; die abstrusen wahngebilde der Pythagoreer, die
realität der zahlen, drängen sich vor die realität der form, des begriffs:
das hexeneinmaleins, der tiefsinn des absurden, steigt wie eine schwarze
wolke an dem aetherklaren himmel dieses attischen geistes auf. dazwischen
aber rafft er sich wieder empor, schaut der wahrheit klar ins auge, daſs
er zu hoch gestrebt, der welt zu viel zugemutet habe, und nun mit
bescheideneren formen und in engeren grenzen den neubau versuchen
müſste. so versucht er den neuen staat. auf neuem lande will er ihn
bauen, wie die entsagenden Auswanderer Goethes; aber er schlieſst sich
doch dem altheimisch gegebenen weit enger an als vorher. die gesetze
der eigenen vaterstadt studirt er jetzt und findet gar vieles, das er bei-
behalten kann; liebevoll versenkt er sich in die bedürfnisse des lebens,
auch der geringen und der kleinen, sinnt über die kleinkinderschule,
über das lesebuch und den mathematischen unterricht der kinder, pflanzt
bäume und umfriedigt quellen, und verbietet fischefangen und vogel-
stellen, weil es manchen guten gesellen verdirbt. auch über das höchste
sinnt er: die weltgeschichte vermag er als eine fortschreitende ent-
wickelung auch aus der art und lage der siedelungen zu betrachten,
und die beiden wurzeln der gottesverehrung, das rätsel des seelenlebens
und die wunder der gesetzmäſsigen naturerscheinungen, werden ihm
offenbar.27) so lebt er weiter, lehrt er weiter, schreibt er weiter. es
ist greisenhaft: γῆϱας, γῆϱας δ̕ ὅμως Ὁμήϱου würde der schriftsteller

gewaltigung, wenn man deswegen die stellen der Gesetze auf rechnung des Phi-
lippos schiebt. hat der keine ehre zu verlieren? sollen wir einen unbescholtenen
zu einem fälscher machen, um dem greisen Platon einen widerspruch zu nehmen,
einen von vielen? die entstehung des bösen konnte er nun doch einmal nicht
erklären, und den schönen mut, es zu negiren, hatte er nicht immer. wenn er im
Staate (379) sich begnügt zu sagen, daſs der urheber aller übel jemand oder viel-
mehr etwas anderes als gott sein müsse, so rechnet der Politikos (269) das übel schon
gewissermaſsen als die der materie innewohnende schwere, die den pendel zurück-
schwingen läſst, wenn die kraft, gottes, die ihn in bewegung gesetzt hat, nach-
läſst. das drückt noch sehr schön das negative aus; aber die materie ist doch schon
etwas reales geworden. wenn nun das wirklich reale und bewegende seele sein
muſs, so führt die consequenz des denkens auf eine ungöttliche, also böse welt-
seele. Platon scheute sich vor diesem gedanken, aber wie sollte er ihm nicht ge-
kommen sein? und zuweilen gewann er macht über ihn: dafür sind die partien
der Gesetze ein document, sehr traurig, aber trotz alledem unschätzbar.
27) Ges. XII 966. das hat Aristoteles aufgenommen und kürzer und klarer
gesagt, in dem dialog πεϱὶ φιλοσοφίας 10 Rose. natürlich gibt das keine dati-
rung für den dialog: aber er ist schwerlich ein jugendwerk.
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[331/0345] Der alte Platon. oder es flüchtet sich die speculation immer tiefer in das reich des abstractesten denkens; die abstrusen wahngebilde der Pythagoreer, die realität der zahlen, drängen sich vor die realität der form, des begriffs: das hexeneinmaleins, der tiefsinn des absurden, steigt wie eine schwarze wolke an dem aetherklaren himmel dieses attischen geistes auf. dazwischen aber rafft er sich wieder empor, schaut der wahrheit klar ins auge, daſs er zu hoch gestrebt, der welt zu viel zugemutet habe, und nun mit bescheideneren formen und in engeren grenzen den neubau versuchen müſste. so versucht er den neuen staat. auf neuem lande will er ihn bauen, wie die entsagenden Auswanderer Goethes; aber er schlieſst sich doch dem altheimisch gegebenen weit enger an als vorher. die gesetze der eigenen vaterstadt studirt er jetzt und findet gar vieles, das er bei- behalten kann; liebevoll versenkt er sich in die bedürfnisse des lebens, auch der geringen und der kleinen, sinnt über die kleinkinderschule, über das lesebuch und den mathematischen unterricht der kinder, pflanzt bäume und umfriedigt quellen, und verbietet fischefangen und vogel- stellen, weil es manchen guten gesellen verdirbt. auch über das höchste sinnt er: die weltgeschichte vermag er als eine fortschreitende ent- wickelung auch aus der art und lage der siedelungen zu betrachten, und die beiden wurzeln der gottesverehrung, das rätsel des seelenlebens und die wunder der gesetzmäſsigen naturerscheinungen, werden ihm offenbar. 27) so lebt er weiter, lehrt er weiter, schreibt er weiter. es ist greisenhaft: γῆϱας, γῆϱας δ̕ ὅμως Ὁμήϱου würde der schriftsteller 26) 27) Ges. XII 966. das hat Aristoteles aufgenommen und kürzer und klarer gesagt, in dem dialog πεϱὶ φιλοσοφίας 10 Rose. natürlich gibt das keine dati- rung für den dialog: aber er ist schwerlich ein jugendwerk. 26) gewaltigung, wenn man deswegen die stellen der Gesetze auf rechnung des Phi- lippos schiebt. hat der keine ehre zu verlieren? sollen wir einen unbescholtenen zu einem fälscher machen, um dem greisen Platon einen widerspruch zu nehmen, einen von vielen? die entstehung des bösen konnte er nun doch einmal nicht erklären, und den schönen mut, es zu negiren, hatte er nicht immer. wenn er im Staate (379) sich begnügt zu sagen, daſs der urheber aller übel jemand oder viel- mehr etwas anderes als gott sein müsse, so rechnet der Politikos (269) das übel schon gewissermaſsen als die der materie innewohnende schwere, die den pendel zurück- schwingen läſst, wenn die kraft, gottes, die ihn in bewegung gesetzt hat, nach- läſst. das drückt noch sehr schön das negative aus; aber die materie ist doch schon etwas reales geworden. wenn nun das wirklich reale und bewegende seele sein muſs, so führt die consequenz des denkens auf eine ungöttliche, also böse welt- seele. Platon scheute sich vor diesem gedanken, aber wie sollte er ihm nicht ge- kommen sein? und zuweilen gewann er macht über ihn: dafür sind die partien der Gesetze ein document, sehr traurig, aber trotz alledem unschätzbar.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/345>, abgerufen am 17.05.2024.