Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite
Attische poesie und die Poetik. Platon und das wahre lebensideal.

Für seine poetik verdankt Aristoteles überhaupt so ziemlich alle
bedeutenden grundgedanken dem Platon19), insbesondere den frucht-
barsten der mimesis; nur das stilkritische und alles was die lexis an-
geht, hatte jener verschmäht. für die rhetorik hatte Isokrates selbst
schon, so viel in seinen kopf gieng, aus dem Phaidros gelernt, mehr
noch aus dem verkehre mit dem ihm damals geneigten verfasser.20) dann
aber konnte Aristoteles die isokrateische routine nur dadurch wissen-
schaftlich machen, dass er aus der platonischen begriffsphilosophie eine
wirkliche logik entwickelte: was denn doch wol für alle zeiten sein
grösstes absolutes verdienst bleiben wird. denn weil er diese schuf, ward
er der vater aller wissenschaftlichen methode.

Platons lehre ist es also, ohne die selbst auf diesen gebieten, zuPlaton und
das wahre
lebensideal.

denen er ihn nicht direct geführt hat, Aristoteles seine erfolge gar nicht
hätte erringen können. es ist der in wahrheit entscheidende moment
in seinem leben gewesen, als dieses lehrers rede sein junges herz er-
weckte: er vernahm die stimme die ihn berief, er gelobte sich dem be-
rufe, und er hat das gelübde gehalten. schwerlich hat ein zweites mal
auf dieser erde ein solcher meister einen solchen jünger geworben. was
jener moment für die menschheit bedeutet: dafür genügt es Raffaels
schule von Athen zu betrachten. aber es geziemt sich auch zu bedenken,
was er für die beiden grossen und guten menschen bedeutet hat. ver-
gebens fragen wir, ob Platons seele von Eros zu Aristoteles hin-
gezogen worden ist: Aristoteles hat sich von dem munde des meisters
nicht wieder losreissen können, so lange noch ein wort und ein atem-
zug diese lippen bewegte. er fand bei Platon nicht nur die lehre sieg-
reich behauptet, dass der mensch nur glücklich ist, wenn er gut ist, dass
er aber, wenn er gut ist auch glücklich ist: dies hohe wort sah er in

19) Die dissertation von Ch. Belger de Aristotele etiam in arte poetica Pla-
tonis discipulo
Berlin 72 führt das so gut aus, wie eine erstlingsarbeit es kann.
aber ein mann, der die poesie und die poetik weiter übersieht, wird noch viel zu
tun finden.
20) Wenn Praxiphanes als fiction eines dialoges einführen konnte, dass Iso-
krates bei Platon auf seinem landgute am obern Kephisos einkehrte, und die beiden
sich über die dichtkunst unterhielten (Diogen. III 8), so kann das auf ihrem notorischen
verkehre in der jugendzeit aufgebaut sein. indessen hatten sie z. b. in Timotheos
Konons sohn einen bedeutenden gemeinsamen bekannten, und sie waren beide männer
von attischer urbanität und an die schärfe der wissenschaftlichen polemik gewöhnt,
die nur die feigen und indifferenten nicht vertragen, weil sie nicht einsehen, dass
die sache über der person steht. sie können in den jahren 380--60 sehr wol
persönlich ohne gene mit einander verkehrt haben.
Attische poesie und die Poetik. Platon und das wahre lebensideal.

Für seine poetik verdankt Aristoteles überhaupt so ziemlich alle
bedeutenden grundgedanken dem Platon19), insbesondere den frucht-
barsten der μίμησις; nur das stilkritische und alles was die λέξις an-
geht, hatte jener verschmäht. für die rhetorik hatte Isokrates selbst
schon, so viel in seinen kopf gieng, aus dem Phaidros gelernt, mehr
noch aus dem verkehre mit dem ihm damals geneigten verfasser.20) dann
aber konnte Aristoteles die isokrateische routine nur dadurch wissen-
schaftlich machen, daſs er aus der platonischen begriffsphilosophie eine
wirkliche logik entwickelte: was denn doch wol für alle zeiten sein
gröſstes absolutes verdienst bleiben wird. denn weil er diese schuf, ward
er der vater aller wissenschaftlichen methode.

Platons lehre ist es also, ohne die selbst auf diesen gebieten, zuPlaton und
das wahre
lebensideal.

denen er ihn nicht direct geführt hat, Aristoteles seine erfolge gar nicht
hätte erringen können. es ist der in wahrheit entscheidende moment
in seinem leben gewesen, als dieses lehrers rede sein junges herz er-
weckte: er vernahm die stimme die ihn berief, er gelobte sich dem be-
rufe, und er hat das gelübde gehalten. schwerlich hat ein zweites mal
auf dieser erde ein solcher meister einen solchen jünger geworben. was
jener moment für die menschheit bedeutet: dafür genügt es Raffaels
schule von Athen zu betrachten. aber es geziemt sich auch zu bedenken,
was er für die beiden groſsen und guten menschen bedeutet hat. ver-
gebens fragen wir, ob Platons seele von Eros zu Aristoteles hin-
gezogen worden ist: Aristoteles hat sich von dem munde des meisters
nicht wieder losreiſsen können, so lange noch ein wort und ein atem-
zug diese lippen bewegte. er fand bei Platon nicht nur die lehre sieg-
reich behauptet, daſs der mensch nur glücklich ist, wenn er gut ist, daſs
er aber, wenn er gut ist auch glücklich ist: dies hohe wort sah er in

19) Die dissertation von Ch. Belger de Aristotele etiam in arte poetica Pla-
tonis discipulo
Berlin 72 führt das so gut aus, wie eine erstlingsarbeit es kann.
aber ein mann, der die poesie und die poetik weiter übersieht, wird noch viel zu
tun finden.
20) Wenn Praxiphanes als fiction eines dialoges einführen konnte, daſs Iso-
krates bei Platon auf seinem landgute am obern Kephisos einkehrte, und die beiden
sich über die dichtkunst unterhielten (Diogen. III 8), so kann das auf ihrem notorischen
verkehre in der jugendzeit aufgebaut sein. indessen hatten sie z. b. in Timotheos
Konons sohn einen bedeutenden gemeinsamen bekannten, und sie waren beide männer
von attischer urbanität und an die schärfe der wissenschaftlichen polemik gewöhnt,
die nur die feigen und indifferenten nicht vertragen, weil sie nicht einsehen, daſs
die sache über der person steht. sie können in den jahren 380—60 sehr wol
persönlich ohne gêne mit einander verkehrt haben.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0339" n="325"/>
          <fw place="top" type="header">Attische poesie und die Poetik. Platon und das wahre lebensideal.</fw><lb/>
          <p>Für seine poetik verdankt Aristoteles überhaupt so ziemlich alle<lb/>
bedeutenden grundgedanken dem Platon<note place="foot" n="19)">Die dissertation von Ch. Belger <hi rendition="#i">de Aristotele etiam in arte poetica Pla-<lb/>
tonis discipulo</hi> Berlin 72 führt das so gut aus, wie eine erstlingsarbeit es kann.<lb/>
aber ein mann, der die poesie und die poetik weiter übersieht, wird noch viel zu<lb/>
tun finden.</note>, insbesondere den frucht-<lb/>
barsten der &#x03BC;&#x03AF;&#x03BC;&#x03B7;&#x03C3;&#x03B9;&#x03C2;; nur das stilkritische und alles was die &#x03BB;&#x03AD;&#x03BE;&#x03B9;&#x03C2; an-<lb/>
geht, hatte jener verschmäht. für die rhetorik hatte Isokrates selbst<lb/>
schon, so viel in seinen kopf gieng, aus dem Phaidros gelernt, mehr<lb/>
noch aus dem verkehre mit dem ihm damals geneigten verfasser.<note place="foot" n="20)">Wenn Praxiphanes als fiction eines dialoges einführen konnte, da&#x017F;s Iso-<lb/>
krates bei Platon auf seinem landgute am obern Kephisos einkehrte, und die beiden<lb/>
sich über die dichtkunst unterhielten (Diogen. III 8), so kann das auf ihrem notorischen<lb/>
verkehre in der jugendzeit aufgebaut sein. indessen hatten sie z. b. in Timotheos<lb/>
Konons sohn einen bedeutenden gemeinsamen bekannten, und sie waren beide männer<lb/>
von attischer urbanität und an die schärfe der wissenschaftlichen polemik gewöhnt,<lb/>
die nur die feigen und indifferenten nicht vertragen, weil sie nicht einsehen, da&#x017F;s<lb/>
die sache über der person steht. sie können in den jahren 380&#x2014;60 sehr wol<lb/>
persönlich ohne gêne mit einander verkehrt haben.</note> dann<lb/>
aber konnte Aristoteles die isokrateische routine nur dadurch wissen-<lb/>
schaftlich machen, da&#x017F;s er aus der platonischen begriffsphilosophie eine<lb/>
wirkliche logik entwickelte: was denn doch wol für alle zeiten sein<lb/>
grö&#x017F;stes absolutes verdienst bleiben wird. denn weil er diese schuf, ward<lb/>
er der vater aller wissenschaftlichen methode.</p><lb/>
          <p>Platons lehre ist es also, ohne die selbst auf diesen gebieten, zu<note place="right">Platon und<lb/>
das wahre<lb/>
lebensideal.</note><lb/>
denen er ihn nicht direct geführt hat, Aristoteles seine erfolge gar nicht<lb/>
hätte erringen können. es ist der in wahrheit entscheidende moment<lb/>
in seinem leben gewesen, als dieses lehrers rede sein junges herz er-<lb/>
weckte: er vernahm die stimme die ihn berief, er gelobte sich dem be-<lb/>
rufe, und er hat das gelübde gehalten. schwerlich hat ein zweites mal<lb/>
auf dieser erde ein solcher meister einen solchen jünger geworben. was<lb/>
jener moment für die menschheit bedeutet: dafür genügt es Raffaels<lb/>
schule von Athen zu betrachten. aber es geziemt sich auch zu bedenken,<lb/>
was er für die beiden gro&#x017F;sen und guten menschen bedeutet hat. ver-<lb/>
gebens fragen wir, ob Platons seele von Eros zu Aristoteles hin-<lb/>
gezogen worden ist: Aristoteles hat sich von dem munde des meisters<lb/>
nicht wieder losrei&#x017F;sen können, so lange noch ein wort und ein atem-<lb/>
zug diese lippen bewegte. er fand bei Platon nicht nur die lehre sieg-<lb/>
reich behauptet, da&#x017F;s der mensch nur glücklich ist, wenn er gut ist, da&#x017F;s<lb/>
er aber, wenn er gut ist auch glücklich ist: dies hohe wort sah er in<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[325/0339] Attische poesie und die Poetik. Platon und das wahre lebensideal. Für seine poetik verdankt Aristoteles überhaupt so ziemlich alle bedeutenden grundgedanken dem Platon 19), insbesondere den frucht- barsten der μίμησις; nur das stilkritische und alles was die λέξις an- geht, hatte jener verschmäht. für die rhetorik hatte Isokrates selbst schon, so viel in seinen kopf gieng, aus dem Phaidros gelernt, mehr noch aus dem verkehre mit dem ihm damals geneigten verfasser. 20) dann aber konnte Aristoteles die isokrateische routine nur dadurch wissen- schaftlich machen, daſs er aus der platonischen begriffsphilosophie eine wirkliche logik entwickelte: was denn doch wol für alle zeiten sein gröſstes absolutes verdienst bleiben wird. denn weil er diese schuf, ward er der vater aller wissenschaftlichen methode. Platons lehre ist es also, ohne die selbst auf diesen gebieten, zu denen er ihn nicht direct geführt hat, Aristoteles seine erfolge gar nicht hätte erringen können. es ist der in wahrheit entscheidende moment in seinem leben gewesen, als dieses lehrers rede sein junges herz er- weckte: er vernahm die stimme die ihn berief, er gelobte sich dem be- rufe, und er hat das gelübde gehalten. schwerlich hat ein zweites mal auf dieser erde ein solcher meister einen solchen jünger geworben. was jener moment für die menschheit bedeutet: dafür genügt es Raffaels schule von Athen zu betrachten. aber es geziemt sich auch zu bedenken, was er für die beiden groſsen und guten menschen bedeutet hat. ver- gebens fragen wir, ob Platons seele von Eros zu Aristoteles hin- gezogen worden ist: Aristoteles hat sich von dem munde des meisters nicht wieder losreiſsen können, so lange noch ein wort und ein atem- zug diese lippen bewegte. er fand bei Platon nicht nur die lehre sieg- reich behauptet, daſs der mensch nur glücklich ist, wenn er gut ist, daſs er aber, wenn er gut ist auch glücklich ist: dies hohe wort sah er in Platon und das wahre lebensideal. 19) Die dissertation von Ch. Belger de Aristotele etiam in arte poetica Pla- tonis discipulo Berlin 72 führt das so gut aus, wie eine erstlingsarbeit es kann. aber ein mann, der die poesie und die poetik weiter übersieht, wird noch viel zu tun finden. 20) Wenn Praxiphanes als fiction eines dialoges einführen konnte, daſs Iso- krates bei Platon auf seinem landgute am obern Kephisos einkehrte, und die beiden sich über die dichtkunst unterhielten (Diogen. III 8), so kann das auf ihrem notorischen verkehre in der jugendzeit aufgebaut sein. indessen hatten sie z. b. in Timotheos Konons sohn einen bedeutenden gemeinsamen bekannten, und sie waren beide männer von attischer urbanität und an die schärfe der wissenschaftlichen polemik gewöhnt, die nur die feigen und indifferenten nicht vertragen, weil sie nicht einsehen, daſs die sache über der person steht. sie können in den jahren 380—60 sehr wol persönlich ohne gêne mit einander verkehrt haben.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/339
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/339>, abgerufen am 17.05.2024.