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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Isokrates und die Rhetorik.
dings sehr eifrig und hat alles wirklich bedeutende, was der rhetor
lehren konnte, in sich aufgenommen. das ist jetzt ganz unverkennbar.
nicht der dialog Platons, sondern die isokrateische rede hat dem verfasser
der Politie die feder so flüssig gemacht. und der theoretiker der Rhe-
torik hat den grössten meister künstlicher rede immer vor augen; der
Panegyrikos und die Helene sind die musterstücke, die er auch später
mit vorliebe anführt: sie konnte er schon 368 studiren.

Aristoteles brachte aus Stagira ein entartetes ionisch mit; dass seine
zunge, wenn er ihr freien lauf liess, immer im wortschatze auf vulgär
ionisches zurück griff, lehren seine schriften, so weit er sie nicht stili-
sirt hat. die oberflächliche manier, die ihn unter die hellenistischen schrift-
steller lieber als unter die Attiker rechnet und auf sein griechisch schilt,
verkennt, dass die Hellenen, und zumal die des ionischen sprachgebietes,
unmöglich reden konnten wie die attischen autochthonen, oder wie jeder
stilistisch gebildete schrieb, auch der Syrakusier Philistos und der Aeoler
Alkidamas. wenn er sich gehen lässt, schreibt Aristoteles eben wie die
gebildeten Ionier, die die wortformen des attischen zumeist angenommen
hatten, aber im wortschatze sich die prüde und wählerische attische
manier gar nicht aufzwängen konnten.10) aber um so mehr muss Ari-
stoteles stilistisch und rhetorisch gearbeitet haben, da er ein schriftsteller
von höchster vollkommenheit und der wissenschaftliche begründer der
rhetorik geworden ist. dazu hat er sich an Isokrates gebildet. was der
konnte und lehrte war mehr als die rede glatt machen und hiate ver-
meiden: er lehrte eine tektonik des logos, wol vergleichbar und mit
recht verglichen der architektonik; er lehrte stil. es war auch eine gei-
stige disciplin darin, den eigenen gedanken so lange zu drehen und zu
wenden, bis er in seine teile gesondert und diese in eine feste und doch
nicht schematische ordnung gebracht waren.11) aber wissenschaft war

10) Was wir als herodoteische und hippokratische anklänge bei Aristoteles
bezeichnen können, ist dieser allgemeine ionische untergrund; was er mit der s. g.
koine gemein hat, ist es auch, denn die koine ist aus dieser Ias erwachsen. in
den naturwissenschaftlichen schriften wird aber natürlich auch die sprache seiner
ionischen vorlagen sehr stark nachwirken: den grossen stilkünstler Demokritos würden
wir gewiss eben so sicher herauserkennen wie wir es mit Herodotos in der Politie
tun. in Demokritos fehlt uns, das dürfen wir nie vergessen, ein sogar an Platon
heranreichender stilist, der höhepunkt der Ias. die ethischen bruchstücke bestätigen
die urteile der alten kunstrichter; die modernen sind freilich klüger und athetiren
was lediglich um der sprachlichen form willen nicht älter und nicht jünger als Demokrit
sein kann.
11) Spengels unvergänglicher aufsatz über Isokrates und Platon gibt noch

Isokrates und die Rhetorik.
dings sehr eifrig und hat alles wirklich bedeutende, was der rhetor
lehren konnte, in sich aufgenommen. das ist jetzt ganz unverkennbar.
nicht der dialog Platons, sondern die isokrateische rede hat dem verfasser
der Politie die feder so flüssig gemacht. und der theoretiker der Rhe-
torik hat den gröſsten meister künstlicher rede immer vor augen; der
Panegyrikos und die Helene sind die musterstücke, die er auch später
mit vorliebe anführt: sie konnte er schon 368 studiren.

Aristoteles brachte aus Stagira ein entartetes ionisch mit; daſs seine
zunge, wenn er ihr freien lauf lieſs, immer im wortschatze auf vulgär
ionisches zurück griff, lehren seine schriften, so weit er sie nicht stili-
sirt hat. die oberflächliche manier, die ihn unter die hellenistischen schrift-
steller lieber als unter die Attiker rechnet und auf sein griechisch schilt,
verkennt, daſs die Hellenen, und zumal die des ionischen sprachgebietes,
unmöglich reden konnten wie die attischen autochthonen, oder wie jeder
stilistisch gebildete schrieb, auch der Syrakusier Philistos und der Aeoler
Alkidamas. wenn er sich gehen läſst, schreibt Aristoteles eben wie die
gebildeten Ionier, die die wortformen des attischen zumeist angenommen
hatten, aber im wortschatze sich die prüde und wählerische attische
manier gar nicht aufzwängen konnten.10) aber um so mehr muſs Ari-
stoteles stilistisch und rhetorisch gearbeitet haben, da er ein schriftsteller
von höchster vollkommenheit und der wissenschaftliche begründer der
rhetorik geworden ist. dazu hat er sich an Isokrates gebildet. was der
konnte und lehrte war mehr als die rede glatt machen und hiate ver-
meiden: er lehrte eine tektonik des λόγος, wol vergleichbar und mit
recht verglichen der architektonik; er lehrte stil. es war auch eine gei-
stige disciplin darin, den eigenen gedanken so lange zu drehen und zu
wenden, bis er in seine teile gesondert und diese in eine feste und doch
nicht schematische ordnung gebracht waren.11) aber wissenschaft war

10) Was wir als herodoteische und hippokratische anklänge bei Aristoteles
bezeichnen können, ist dieser allgemeine ionische untergrund; was er mit der s. g.
κοινή gemein hat, ist es auch, denn die κοινή ist aus dieser Ias erwachsen. in
den naturwissenschaftlichen schriften wird aber natürlich auch die sprache seiner
ionischen vorlagen sehr stark nachwirken: den groſsen stilkünstler Demokritos würden
wir gewiſs eben so sicher herauserkennen wie wir es mit Herodotos in der Politie
tun. in Demokritos fehlt uns, das dürfen wir nie vergessen, ein sogar an Platon
heranreichender stilist, der höhepunkt der Ias. die ethischen bruchstücke bestätigen
die urteile der alten kunstrichter; die modernen sind freilich klüger und athetiren
was lediglich um der sprachlichen form willen nicht älter und nicht jünger als Demokrit
sein kann.
11) Spengels unvergänglicher aufsatz über Isokrates und Platon gibt noch
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[319/0333] Isokrates und die Rhetorik. dings sehr eifrig und hat alles wirklich bedeutende, was der rhetor lehren konnte, in sich aufgenommen. das ist jetzt ganz unverkennbar. nicht der dialog Platons, sondern die isokrateische rede hat dem verfasser der Politie die feder so flüssig gemacht. und der theoretiker der Rhe- torik hat den gröſsten meister künstlicher rede immer vor augen; der Panegyrikos und die Helene sind die musterstücke, die er auch später mit vorliebe anführt: sie konnte er schon 368 studiren. Aristoteles brachte aus Stagira ein entartetes ionisch mit; daſs seine zunge, wenn er ihr freien lauf lieſs, immer im wortschatze auf vulgär ionisches zurück griff, lehren seine schriften, so weit er sie nicht stili- sirt hat. die oberflächliche manier, die ihn unter die hellenistischen schrift- steller lieber als unter die Attiker rechnet und auf sein griechisch schilt, verkennt, daſs die Hellenen, und zumal die des ionischen sprachgebietes, unmöglich reden konnten wie die attischen autochthonen, oder wie jeder stilistisch gebildete schrieb, auch der Syrakusier Philistos und der Aeoler Alkidamas. wenn er sich gehen läſst, schreibt Aristoteles eben wie die gebildeten Ionier, die die wortformen des attischen zumeist angenommen hatten, aber im wortschatze sich die prüde und wählerische attische manier gar nicht aufzwängen konnten. 10) aber um so mehr muſs Ari- stoteles stilistisch und rhetorisch gearbeitet haben, da er ein schriftsteller von höchster vollkommenheit und der wissenschaftliche begründer der rhetorik geworden ist. dazu hat er sich an Isokrates gebildet. was der konnte und lehrte war mehr als die rede glatt machen und hiate ver- meiden: er lehrte eine tektonik des λόγος, wol vergleichbar und mit recht verglichen der architektonik; er lehrte stil. es war auch eine gei- stige disciplin darin, den eigenen gedanken so lange zu drehen und zu wenden, bis er in seine teile gesondert und diese in eine feste und doch nicht schematische ordnung gebracht waren. 11) aber wissenschaft war 10) Was wir als herodoteische und hippokratische anklänge bei Aristoteles bezeichnen können, ist dieser allgemeine ionische untergrund; was er mit der s. g. κοινή gemein hat, ist es auch, denn die κοινή ist aus dieser Ias erwachsen. in den naturwissenschaftlichen schriften wird aber natürlich auch die sprache seiner ionischen vorlagen sehr stark nachwirken: den groſsen stilkünstler Demokritos würden wir gewiſs eben so sicher herauserkennen wie wir es mit Herodotos in der Politie tun. in Demokritos fehlt uns, das dürfen wir nie vergessen, ein sogar an Platon heranreichender stilist, der höhepunkt der Ias. die ethischen bruchstücke bestätigen die urteile der alten kunstrichter; die modernen sind freilich klüger und athetiren was lediglich um der sprachlichen form willen nicht älter und nicht jünger als Demokrit sein kann. 11) Spengels unvergänglicher aufsatz über Isokrates und Platon gibt noch

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/333>, abgerufen am 17.05.2024.