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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 8. Die Atthis.
zusammenstellt, die antragsteller und die gesetze aufstöbert und stamm-
bäume aufbaut, ist um 380 wahrlich nicht zu erwarten. gerade darum
muss jener erste atthidograph über ein älteres material verfügt haben.
wir dürfen uns wol zutrauen, dass wir über Solons verfassung etwas
zuverlässigeres aus den ratsacten und den axones und den inschriften
der königshalle, des Areopages und anderer orte hätten zusammenstellen
können, als wir jetzt bei Aristoteles lesen. die erste Atthis blieb deshalb
auch nur kurze zeit die einzige, und ich zweifle durchaus nicht, dass
es viel mehr bearbeitungen gegeben hat, als uns zufällig namen bekannt
sind. aber der grundstock ist derselbe geblieben: das ist die weise des
hellenischen handwerkes; und wenn wir vielleicht am liebsten das älteste
buch lesen möchten, so ist dabei immer zu beherzigen, dass die neu-
bearbeitungen alle keineswegs bloss eine stilistische umformung in livia-
nischer weise oder gar eine durchgreifende tendenzfälschung, wie die
herren Antias und Macer, vorgenommen haben, obwol auch stücke der art
eingang finden mochten, zumal anekdoten, sondern neues urkundliches
material erschlossen, an dem in den tempeln aller orten kein mangel
war. so hat denn auch dies werk, wie es die bedeutenden zu tun
pflegen, seinen meister in den schatten gestellt. ich kenne ihn nicht.
Pausanias bezeichnet allerdings den Kleidemos, oder wie er schreibt
Kleitodemos, als den ältesten atthidographen, aber wir wissen nicht,
welche gewähr das hat, können auch seine zeit nicht genauer bestim-
men: aber dem volke hat er allerdings zu danke geschrieben, denn sie
haben ihm, wie ehedem dem Herodotos, ein ehrengeschenk verliehen.36)
neben ihm, dem exegeten, der auch über seine kunst eine an-
weisung schrieb, ist noch Melanthios in die erste hälfte des vierten
jahrhunderts zu setzen, der von den modernen vergessen zu werden

36) Pausan. X 15. das ehrengeschenk, das ihm den tod vor freude bereitet
haben soll, berichtet Soran bei Tertullian de anima 52 (hervorgezogen von Rohde
Rh. M. 37, 467). mit einem physiker Kleidemos, den Aristoteles und Theophrastos
öfter citiren, kann man den atthidographen nicht wol gleichsetzen. seine Atthis
wird auch unter dem namen protogonia oder nostoi angeführt; die buchziffern
sind verwirrt, denn im dritten der Atthis soll Kleisthenes vorkommen (Phot.
naukraria), im achten der Nostoi die familie des Hippias. gelesen ist das buch
später wenig, doch stehn glossen aus ihm bei Hesych (Kydathen 173). für seine
zeit hat man nur den anhalt, dass er symmorien erwähnte, nur weiss man nicht,
wann es deren 100 gab, wie er zählt, Böckh Seeurk. 182. ich möchte am ehesten
an die zeit der ersten versuche einer neubildung der flotte, 394--80 denken. auf
seine zugehörigkeit zur Aiantis deutet die bevorzugung dieses regimentes in seinen
berichten über die Perserkriege.

I. 8. Die Atthis.
zusammenstellt, die antragsteller und die gesetze aufstöbert und stamm-
bäume aufbaut, ist um 380 wahrlich nicht zu erwarten. gerade darum
muſs jener erste atthidograph über ein älteres material verfügt haben.
wir dürfen uns wol zutrauen, daſs wir über Solons verfassung etwas
zuverlässigeres aus den ratsacten und den ἄξονες und den inschriften
der königshalle, des Areopages und anderer orte hätten zusammenstellen
können, als wir jetzt bei Aristoteles lesen. die erste Atthis blieb deshalb
auch nur kurze zeit die einzige, und ich zweifle durchaus nicht, daſs
es viel mehr bearbeitungen gegeben hat, als uns zufällig namen bekannt
sind. aber der grundstock ist derselbe geblieben: das ist die weise des
hellenischen handwerkes; und wenn wir vielleicht am liebsten das älteste
buch lesen möchten, so ist dabei immer zu beherzigen, daſs die neu-
bearbeitungen alle keineswegs bloſs eine stilistische umformung in livia-
nischer weise oder gar eine durchgreifende tendenzfälschung, wie die
herren Antias und Macer, vorgenommen haben, obwol auch stücke der art
eingang finden mochten, zumal anekdoten, sondern neues urkundliches
material erschlossen, an dem in den tempeln aller orten kein mangel
war. so hat denn auch dies werk, wie es die bedeutenden zu tun
pflegen, seinen meister in den schatten gestellt. ich kenne ihn nicht.
Pausanias bezeichnet allerdings den Kleidemos, oder wie er schreibt
Kleitodemos, als den ältesten atthidographen, aber wir wissen nicht,
welche gewähr das hat, können auch seine zeit nicht genauer bestim-
men: aber dem volke hat er allerdings zu danke geschrieben, denn sie
haben ihm, wie ehedem dem Herodotos, ein ehrengeschenk verliehen.36)
neben ihm, dem exegeten, der auch über seine kunst eine an-
weisung schrieb, ist noch Melanthios in die erste hälfte des vierten
jahrhunderts zu setzen, der von den modernen vergessen zu werden

36) Pausan. X 15. das ehrengeschenk, das ihm den tod vor freude bereitet
haben soll, berichtet Soran bei Tertullian de anima 52 (hervorgezogen von Rohde
Rh. M. 37, 467). mit einem physiker Kleidemos, den Aristoteles und Theophrastos
öfter citiren, kann man den atthidographen nicht wol gleichsetzen. seine Atthis
wird auch unter dem namen πϱωτογονία oder νόστοι angeführt; die buchziffern
sind verwirrt, denn im dritten der Ἀτϑίς soll Kleisthenes vorkommen (Phot.
ναυκϱαϱία), im achten der Νόστοι die familie des Hippias. gelesen ist das buch
später wenig, doch stehn glossen aus ihm bei Hesych (Kydathen 173). für seine
zeit hat man nur den anhalt, daſs er symmorien erwähnte, nur weiſs man nicht,
wann es deren 100 gab, wie er zählt, Böckh Seeurk. 182. ich möchte am ehesten
an die zeit der ersten versuche einer neubildung der flotte, 394—80 denken. auf
seine zugehörigkeit zur Aiantis deutet die bevorzugung dieses regimentes in seinen
berichten über die Perserkriege.
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[286/0300] I. 8. Die Atthis. zusammenstellt, die antragsteller und die gesetze aufstöbert und stamm- bäume aufbaut, ist um 380 wahrlich nicht zu erwarten. gerade darum muſs jener erste atthidograph über ein älteres material verfügt haben. wir dürfen uns wol zutrauen, daſs wir über Solons verfassung etwas zuverlässigeres aus den ratsacten und den ἄξονες und den inschriften der königshalle, des Areopages und anderer orte hätten zusammenstellen können, als wir jetzt bei Aristoteles lesen. die erste Atthis blieb deshalb auch nur kurze zeit die einzige, und ich zweifle durchaus nicht, daſs es viel mehr bearbeitungen gegeben hat, als uns zufällig namen bekannt sind. aber der grundstock ist derselbe geblieben: das ist die weise des hellenischen handwerkes; und wenn wir vielleicht am liebsten das älteste buch lesen möchten, so ist dabei immer zu beherzigen, daſs die neu- bearbeitungen alle keineswegs bloſs eine stilistische umformung in livia- nischer weise oder gar eine durchgreifende tendenzfälschung, wie die herren Antias und Macer, vorgenommen haben, obwol auch stücke der art eingang finden mochten, zumal anekdoten, sondern neues urkundliches material erschlossen, an dem in den tempeln aller orten kein mangel war. so hat denn auch dies werk, wie es die bedeutenden zu tun pflegen, seinen meister in den schatten gestellt. ich kenne ihn nicht. Pausanias bezeichnet allerdings den Kleidemos, oder wie er schreibt Kleitodemos, als den ältesten atthidographen, aber wir wissen nicht, welche gewähr das hat, können auch seine zeit nicht genauer bestim- men: aber dem volke hat er allerdings zu danke geschrieben, denn sie haben ihm, wie ehedem dem Herodotos, ein ehrengeschenk verliehen. 36) neben ihm, dem exegeten, der auch über seine kunst eine an- weisung schrieb, ist noch Melanthios in die erste hälfte des vierten jahrhunderts zu setzen, der von den modernen vergessen zu werden 36) Pausan. X 15. das ehrengeschenk, das ihm den tod vor freude bereitet haben soll, berichtet Soran bei Tertullian de anima 52 (hervorgezogen von Rohde Rh. M. 37, 467). mit einem physiker Kleidemos, den Aristoteles und Theophrastos öfter citiren, kann man den atthidographen nicht wol gleichsetzen. seine Atthis wird auch unter dem namen πϱωτογονία oder νόστοι angeführt; die buchziffern sind verwirrt, denn im dritten der Ἀτϑίς soll Kleisthenes vorkommen (Phot. ναυκϱαϱία), im achten der Νόστοι die familie des Hippias. gelesen ist das buch später wenig, doch stehn glossen aus ihm bei Hesych (Kydathen 173). für seine zeit hat man nur den anhalt, daſs er symmorien erwähnte, nur weiſs man nicht, wann es deren 100 gab, wie er zählt, Böckh Seeurk. 182. ich möchte am ehesten an die zeit der ersten versuche einer neubildung der flotte, 394—80 denken. auf seine zugehörigkeit zur Aiantis deutet die bevorzugung dieses regimentes in seinen berichten über die Perserkriege.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/300>, abgerufen am 22.11.2024.