Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.I. 7. Die verfassung. nichts mehr gewusst haben, wie die turba minuta in Rom ihre curie nichtkannte. aber auch die demenregister sind nicht mehr rechtsverbindliche urkunden: das treiben von gemeinden wie Halimus hat es dahin gebracht, dass die diapsephisis, die 346 noch eine ausnahmemassregel war, jetzt eine dauernde institution ist. um die kinder kümmert sich selbst die gemeinde nicht eher als bis der jüngling 18 jahre ist, und dass er das ist, wird nicht bewiesen mit einer geburtsurkunde, sondern kraft eines majoritätsbeschlusses der gemeinde festgestellt; wer ihnen nicht nach 18 jahren aussieht, mag übers jahr wiederkommen, vielleicht erfährt er dann, wann er geboren ist. aber selbst darin traut man der gemeinde nicht; der rat hat die superrevision, und wenn die gemeinde sich nach seiner meinung über das alter getäuscht hat, zahlt sie strafe.6) die frage nach der ächtbürtigkeit entscheidet positiv die gemeinde, nach ihrem negativen vorurteil ein gericht. doch verliert der an dieses appellirende die freiheit, ganz ebenso wie in jedem andern processe xenias. so instruiren denn auch in allen diesen fällen die thesmotheten den process. überlegt man sich diese bestimmungen, so sieht man, dass die Athener jener zeit zwar ein officielles lebensalter hatten, aber ihr factisches geburtsjahr keinesweges fest stand; vielleicht beherzigt das die litteraturgeschichte. geburtstage können nur gelegentlich wie bei Epikur und in seinem kreise geschichtlich sein; Sokrates und Platon haben mythische. die frauen kommen für den staat nicht in betracht. über die ächtbürtigkeit seiner braut mag sich jeder selbst informiren, wichtig wird sie erst, wenn der älteste sohn soldat werden soll, oder wenn der mann ein amt bekleiden will, das eine vollgültige ehe fordert. es ist eine herzlich unvollkommene ordnung, gar nicht zu vergleichen mit der des geschlechterstaates. aber davor war man allerdings sicher, dass eine allgemeine prüfung der bürgerlisten erforderlich würde: die 42 tafeln vor dem rathause enthielten die namen der gesammten bürgerschaft zwischen 18 und 60 jahren.7) aber vielleicht standen 325 noch keine 42 da: denn diese 6) Der scholiast zu den Wespen 598 hat sich geirrt, wenn er die dokimasia paidon, an der sich die richter delectiren, mit der Aristotelesstelle erklären will, denn nun sollte doch jeder sehen, dass die richterliche prüfung sich nicht auf das lebens- alter, sondern auf die ächtbürtigkeit bezog: die aidoia der knaben bekam nur der rat zu sehn. also bleibt es dabei (Kydath. 26), dass Aristophanes die dokimasia orphanon meint, die gleichzeitig der oligarch in seiner Pol. Ath. 3, 5 den richtern zurechnet, und da unmöglich alle waisen vor gericht gestellt werden konnten, so wird man auch nicht darum herum kommen, diejenigen zu verstehn, die der staat nährte und equipirte. 7) Die krüppel mögen da nicht gestanden haben; dann hatte sie aber der
rat in seinen listen. I. 7. Die verfassung. nichts mehr gewuſst haben, wie die turba minuta in Rom ihre curie nichtkannte. aber auch die demenregister sind nicht mehr rechtsverbindliche urkunden: das treiben von gemeinden wie Halimus hat es dahin gebracht, daſs die διαψήφισις, die 346 noch eine ausnahmemaſsregel war, jetzt eine dauernde institution ist. um die kinder kümmert sich selbst die gemeinde nicht eher als bis der jüngling 18 jahre ist, und daſs er das ist, wird nicht bewiesen mit einer geburtsurkunde, sondern kraft eines majoritätsbeschlusses der gemeinde festgestellt; wer ihnen nicht nach 18 jahren aussieht, mag übers jahr wiederkommen, vielleicht erfährt er dann, wann er geboren ist. aber selbst darin traut man der gemeinde nicht; der rat hat die superrevision, und wenn die gemeinde sich nach seiner meinung über das alter getäuscht hat, zahlt sie strafe.6) die frage nach der ächtbürtigkeit entscheidet positiv die gemeinde, nach ihrem negativen vorurteil ein gericht. doch verliert der an dieses appellirende die freiheit, ganz ebenso wie in jedem andern processe ξενίας. so instruiren denn auch in allen diesen fällen die thesmotheten den proceſs. überlegt man sich diese bestimmungen, so sieht man, daſs die Athener jener zeit zwar ein officielles lebensalter hatten, aber ihr factisches geburtsjahr keinesweges fest stand; vielleicht beherzigt das die litteraturgeschichte. geburtstage können nur gelegentlich wie bei Epikur und in seinem kreise geschichtlich sein; Sokrates und Platon haben mythische. die frauen kommen für den staat nicht in betracht. über die ächtbürtigkeit seiner braut mag sich jeder selbst informiren, wichtig wird sie erst, wenn der älteste sohn soldat werden soll, oder wenn der mann ein amt bekleiden will, das eine vollgültige ehe fordert. es ist eine herzlich unvollkommene ordnung, gar nicht zu vergleichen mit der des geschlechterstaates. aber davor war man allerdings sicher, daſs eine allgemeine prüfung der bürgerlisten erforderlich würde: die 42 tafeln vor dem rathause enthielten die namen der gesammten bürgerschaft zwischen 18 und 60 jahren.7) aber vielleicht standen 325 noch keine 42 da: denn diese 6) Der scholiast zu den Wespen 598 hat sich geirrt, wenn er die δοκιμασία παίδων, an der sich die richter delectiren, mit der Aristotelesstelle erklären will, denn nun sollte doch jeder sehen, daſs die richterliche prüfung sich nicht auf das lebens- alter, sondern auf die ächtbürtigkeit bezog: die αἰδοῖα der knaben bekam nur der rat zu sehn. also bleibt es dabei (Kydath. 26), daſs Aristophanes die δοκιμασία ὀϱφανῶν meint, die gleichzeitig der oligarch in seiner Πολ. Αϑ. 3, 5 den richtern zurechnet, und da unmöglich alle waisen vor gericht gestellt werden konnten, so wird man auch nicht darum herum kommen, diejenigen zu verstehn, die der staat nährte und equipirte. 7) Die krüppel mögen da nicht gestanden haben; dann hatte sie aber der
rat in seinen listen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0204" n="190"/><fw place="top" type="header">I. 7. Die verfassung.</fw><lb/> nichts mehr gewuſst haben, wie die <hi rendition="#i">turba minuta</hi> in Rom ihre curie nicht<lb/> kannte. aber auch die demenregister sind nicht mehr rechtsverbindliche<lb/> urkunden: das treiben von gemeinden wie Halimus hat es dahin gebracht,<lb/> daſs die διαψήφισις, die 346 noch eine ausnahmemaſsregel war, jetzt<lb/> eine dauernde institution ist. um die kinder kümmert sich selbst die<lb/> gemeinde nicht eher als bis der jüngling 18 jahre ist, und daſs er das<lb/> ist, wird nicht bewiesen mit einer geburtsurkunde, sondern kraft eines<lb/> majoritätsbeschlusses der gemeinde festgestellt; wer ihnen nicht nach<lb/> 18 jahren aussieht, mag übers jahr wiederkommen, vielleicht erfährt er<lb/> dann, wann er geboren ist. aber selbst darin traut man der gemeinde<lb/> nicht; der rat hat die superrevision, und wenn die gemeinde sich<lb/> nach seiner meinung über das alter getäuscht hat, zahlt sie strafe.<note place="foot" n="6)">Der scholiast zu den Wespen 598 hat sich geirrt, wenn er die δοκιμασία<lb/> παίδων, an der sich die richter delectiren, mit der Aristotelesstelle erklären will,<lb/> denn nun sollte doch jeder sehen, daſs die richterliche prüfung sich nicht auf das lebens-<lb/> alter, sondern auf die ächtbürtigkeit bezog: die αἰδοῖα der knaben bekam nur der rat<lb/> zu sehn. also bleibt es dabei (Kydath. 26), daſs Aristophanes die δοκιμασία ὀϱφανῶν<lb/> meint, die gleichzeitig der oligarch in seiner Πολ. Αϑ. 3, 5 den richtern zurechnet,<lb/> und da unmöglich alle waisen vor gericht gestellt werden konnten, so wird man auch<lb/> nicht darum herum kommen, diejenigen zu verstehn, die der staat nährte und equipirte.</note><lb/> die frage nach der ächtbürtigkeit entscheidet positiv die gemeinde, nach<lb/> ihrem negativen vorurteil ein gericht. doch verliert der an dieses<lb/> appellirende die freiheit, ganz ebenso wie in jedem andern processe<lb/> ξενίας. so instruiren denn auch in allen diesen fällen die thesmotheten<lb/> den proceſs. überlegt man sich diese bestimmungen, so sieht man, daſs<lb/> die Athener jener zeit zwar ein officielles lebensalter hatten, aber ihr<lb/> factisches geburtsjahr keinesweges fest stand; vielleicht beherzigt das die<lb/> litteraturgeschichte. geburtstage können nur gelegentlich wie bei Epikur<lb/> und in seinem kreise geschichtlich sein; Sokrates und Platon haben<lb/> mythische. die frauen kommen für den staat nicht in betracht. über<lb/> die ächtbürtigkeit seiner braut mag sich jeder selbst informiren, wichtig<lb/> wird sie erst, wenn der älteste sohn soldat werden soll, oder wenn der<lb/> mann ein amt bekleiden will, das eine vollgültige ehe fordert. es ist<lb/> eine herzlich unvollkommene ordnung, gar nicht zu vergleichen mit der<lb/> des geschlechterstaates. aber davor war man allerdings sicher, daſs eine<lb/> allgemeine prüfung der bürgerlisten erforderlich würde: die 42 tafeln vor<lb/> dem rathause enthielten die namen der gesammten bürgerschaft zwischen 18<lb/> und 60 jahren.<note place="foot" n="7)">Die krüppel mögen da nicht gestanden haben; dann hatte sie aber der<lb/> rat in seinen listen.</note> aber vielleicht standen 325 noch keine 42 da: denn diese<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [190/0204]
I. 7. Die verfassung.
nichts mehr gewuſst haben, wie die turba minuta in Rom ihre curie nicht
kannte. aber auch die demenregister sind nicht mehr rechtsverbindliche
urkunden: das treiben von gemeinden wie Halimus hat es dahin gebracht,
daſs die διαψήφισις, die 346 noch eine ausnahmemaſsregel war, jetzt
eine dauernde institution ist. um die kinder kümmert sich selbst die
gemeinde nicht eher als bis der jüngling 18 jahre ist, und daſs er das
ist, wird nicht bewiesen mit einer geburtsurkunde, sondern kraft eines
majoritätsbeschlusses der gemeinde festgestellt; wer ihnen nicht nach
18 jahren aussieht, mag übers jahr wiederkommen, vielleicht erfährt er
dann, wann er geboren ist. aber selbst darin traut man der gemeinde
nicht; der rat hat die superrevision, und wenn die gemeinde sich
nach seiner meinung über das alter getäuscht hat, zahlt sie strafe. 6)
die frage nach der ächtbürtigkeit entscheidet positiv die gemeinde, nach
ihrem negativen vorurteil ein gericht. doch verliert der an dieses
appellirende die freiheit, ganz ebenso wie in jedem andern processe
ξενίας. so instruiren denn auch in allen diesen fällen die thesmotheten
den proceſs. überlegt man sich diese bestimmungen, so sieht man, daſs
die Athener jener zeit zwar ein officielles lebensalter hatten, aber ihr
factisches geburtsjahr keinesweges fest stand; vielleicht beherzigt das die
litteraturgeschichte. geburtstage können nur gelegentlich wie bei Epikur
und in seinem kreise geschichtlich sein; Sokrates und Platon haben
mythische. die frauen kommen für den staat nicht in betracht. über
die ächtbürtigkeit seiner braut mag sich jeder selbst informiren, wichtig
wird sie erst, wenn der älteste sohn soldat werden soll, oder wenn der
mann ein amt bekleiden will, das eine vollgültige ehe fordert. es ist
eine herzlich unvollkommene ordnung, gar nicht zu vergleichen mit der
des geschlechterstaates. aber davor war man allerdings sicher, daſs eine
allgemeine prüfung der bürgerlisten erforderlich würde: die 42 tafeln vor
dem rathause enthielten die namen der gesammten bürgerschaft zwischen 18
und 60 jahren. 7) aber vielleicht standen 325 noch keine 42 da: denn diese
6) Der scholiast zu den Wespen 598 hat sich geirrt, wenn er die δοκιμασία
παίδων, an der sich die richter delectiren, mit der Aristotelesstelle erklären will,
denn nun sollte doch jeder sehen, daſs die richterliche prüfung sich nicht auf das lebens-
alter, sondern auf die ächtbürtigkeit bezog: die αἰδοῖα der knaben bekam nur der rat
zu sehn. also bleibt es dabei (Kydath. 26), daſs Aristophanes die δοκιμασία ὀϱφανῶν
meint, die gleichzeitig der oligarch in seiner Πολ. Αϑ. 3, 5 den richtern zurechnet,
und da unmöglich alle waisen vor gericht gestellt werden konnten, so wird man auch
nicht darum herum kommen, diejenigen zu verstehn, die der staat nährte und equipirte.
7) Die krüppel mögen da nicht gestanden haben; dann hatte sie aber der
rat in seinen listen.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |