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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Die politische litteratur Athens.

Bald nachdem die restaurirte demokratie den Sokrates getötet hatte,
zogen seine schüler sie zur verantwortung. Platon schrieb den Gorgias:
da haben wir die vier grossen demagogen, Miltiades und Komon von der
partei der vornehmen, Themistokles und Perikles von den demokraten;
Aristeides wird ihnen als der einzige ehrenmann entgegengestellt. Anti-
sthenes schrieb den Politikos, der apanton katadromen periekhei ton
Athenesi demagogon (Herodikos bei Athen. V 220), und Aischines
verflocht Miltiades und Themistokles, Perikles und Rhinon in seine dialoge,
deren verlust die geschichte und die poesie viel empfindlicher getroffen
hat als die philosophie. war schon die stellung der Sokratiker zu der
demokratie und ihren führern nicht bei allen dieselbe, so konnte nicht aus-
bleiben, dass die rhetorik auch verteidiger auf den plan führte: die an-
klageschrift des Polykrates hat den Sokrates als lehrer von Kritias und
Alkibiades, wovon 399 nicht die rede gewesen war, wesentlich um des
Gorgias willen angegriffen89), und so tobt der kampf, der eigentlich prin-
cipien gilt, um die personen weiter. in den Philippika hat Theopompos
die entwickelung der athenischen demokratie ganz ähnlich wie Aristo-
teles in dem berufenen excurse peri ton Athenesi demagogon ge-
geben, und noch in der schule Epikurs Idomeneus die berechtigung,
sich von dem öffentlichen leben zurückzuziehen, in einer gleichnamigen
schrift bewiesen, die reichlichen stoff für gehässige verkleinerung schon
vorfand. es ist das fünfte jahrhundert, das sich allein einer solchen
diadokhe prostaton fügt, eigentlich sogar nur bis zum Nikiasfrieden.
der späteren zeit fehlen die beherrschenden personen, fehlen auch die
parteien; es ist ja auch der ostrakismos nicht mehr durchführbar, und
die oligarchische partei oder vielmehr jede tendenz, die radikal demo-

wenn man für die orientalischen namen Lykon Autolykos Sokrates einsetzt. wer
die personen, auch in den Memorabilien, mit der komoedie vergleicht, wird sehr
oft bemerken, wo der schriftsteller, der die moderne naivetät, in den dialogen reali-
täten zu suchen, nicht ahnen konnte, seine personalien über die zeitgenossen des
Sokrates hergenommen hat. nur das urteil über die personen hat meist die erinnerung
oder familienverbindung des ritters aus Herchia bestimmt. auch bei Antisthenes
und Aischines kommen komoedienfiguren vor. Isokrates, der philister, ist dagegen
für die komoedie taub.
89) Hirzel Rh. M. 42, 250. es ergibt sich hier eine vollkommen unanfechtbare
relative chronologie, 1, Platons Gorgias, 2, die rede des Polykrates, 3, Platons Menon,
Lysias für Sokrates, Isokrates Buseiris, diese letzten drei unter einander zunächst
noch nicht datirbar. aber bekannte tatsachen fixiren mehrere einzelne und damit
alle zwischen 394 und 390: sie schieben den Gorgias also höher hinauf. wessen com-
binationen sich damit nicht vertragen, der muss sie einfach fallen lassen.
Die politische litteratur Athens.

Bald nachdem die restaurirte demokratie den Sokrates getötet hatte,
zogen seine schüler sie zur verantwortung. Platon schrieb den Gorgias:
da haben wir die vier groſsen demagogen, Miltiades und Komon von der
partei der vornehmen, Themistokles und Perikles von den demokraten;
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Ἀϑήνησι δημαγωγῶν (Herodikos bei Athen. V 220), und Aischines
verflocht Miltiades und Themistokles, Perikles und Rhinon in seine dialoge,
deren verlust die geschichte und die poesie viel empfindlicher getroffen
hat als die philosophie. war schon die stellung der Sokratiker zu der
demokratie und ihren führern nicht bei allen dieselbe, so konnte nicht aus-
bleiben, daſs die rhetorik auch verteidiger auf den plan führte: die an-
klageschrift des Polykrates hat den Sokrates als lehrer von Kritias und
Alkibiades, wovon 399 nicht die rede gewesen war, wesentlich um des
Gorgias willen angegriffen89), und so tobt der kampf, der eigentlich prin-
cipien gilt, um die personen weiter. in den Philippika hat Theopompos
die entwickelung der athenischen demokratie ganz ähnlich wie Aristo-
teles in dem berufenen excurse πεϱὶ τῶν Ἀϑήνησι δημαγωγῶν ge-
geben, und noch in der schule Epikurs Idomeneus die berechtigung,
sich von dem öffentlichen leben zurückzuziehen, in einer gleichnamigen
schrift bewiesen, die reichlichen stoff für gehässige verkleinerung schon
vorfand. es ist das fünfte jahrhundert, das sich allein einer solchen
διαδοχὴ πϱοστατῶν fügt, eigentlich sogar nur bis zum Nikiasfrieden.
der späteren zeit fehlen die beherrschenden personen, fehlen auch die
parteien; es ist ja auch der ostrakismos nicht mehr durchführbar, und
die oligarchische partei oder vielmehr jede tendenz, die radikal demo-

wenn man für die orientalischen namen Lykon Autolykos Sokrates einsetzt. wer
die personen, auch in den Memorabilien, mit der komoedie vergleicht, wird sehr
oft bemerken, wo der schriftsteller, der die moderne naivetät, in den dialogen reali-
täten zu suchen, nicht ahnen konnte, seine personalien über die zeitgenossen des
Sokrates hergenommen hat. nur das urteil über die personen hat meist die erinnerung
oder familienverbindung des ritters aus Herchia bestimmt. auch bei Antisthenes
und Aischines kommen komoedienfiguren vor. Isokrates, der philister, ist dagegen
für die komoedie taub.
89) Hirzel Rh. M. 42, 250. es ergibt sich hier eine vollkommen unanfechtbare
relative chronologie, 1, Platons Gorgias, 2, die rede des Polykrates, 3, Platons Menon,
Lysias für Sokrates, Isokrates Buseiris, diese letzten drei unter einander zunächst
noch nicht datirbar. aber bekannte tatsachen fixiren mehrere einzelne und damit
alle zwischen 394 und 390: sie schieben den Gorgias also höher hinauf. wessen com-
binationen sich damit nicht vertragen, der muſs sie einfach fallen lassen.
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[183/0197] Die politische litteratur Athens. Bald nachdem die restaurirte demokratie den Sokrates getötet hatte, zogen seine schüler sie zur verantwortung. Platon schrieb den Gorgias: da haben wir die vier groſsen demagogen, Miltiades und Komon von der partei der vornehmen, Themistokles und Perikles von den demokraten; Aristeides wird ihnen als der einzige ehrenmann entgegengestellt. Anti- sthenes schrieb den Politikos, der ἁπάντων καταδϱομὴν πεϱιέχει τῶν Ἀϑήνησι δημαγωγῶν (Herodikos bei Athen. V 220), und Aischines verflocht Miltiades und Themistokles, Perikles und Rhinon in seine dialoge, deren verlust die geschichte und die poesie viel empfindlicher getroffen hat als die philosophie. war schon die stellung der Sokratiker zu der demokratie und ihren führern nicht bei allen dieselbe, so konnte nicht aus- bleiben, daſs die rhetorik auch verteidiger auf den plan führte: die an- klageschrift des Polykrates hat den Sokrates als lehrer von Kritias und Alkibiades, wovon 399 nicht die rede gewesen war, wesentlich um des Gorgias willen angegriffen 89), und so tobt der kampf, der eigentlich prin- cipien gilt, um die personen weiter. in den Philippika hat Theopompos die entwickelung der athenischen demokratie ganz ähnlich wie Aristo- teles in dem berufenen excurse πεϱὶ τῶν Ἀϑήνησι δημαγωγῶν ge- geben, und noch in der schule Epikurs Idomeneus die berechtigung, sich von dem öffentlichen leben zurückzuziehen, in einer gleichnamigen schrift bewiesen, die reichlichen stoff für gehässige verkleinerung schon vorfand. es ist das fünfte jahrhundert, das sich allein einer solchen διαδοχὴ πϱοστατῶν fügt, eigentlich sogar nur bis zum Nikiasfrieden. der späteren zeit fehlen die beherrschenden personen, fehlen auch die parteien; es ist ja auch der ostrakismos nicht mehr durchführbar, und die oligarchische partei oder vielmehr jede tendenz, die radikal demo- 88) 89) Hirzel Rh. M. 42, 250. es ergibt sich hier eine vollkommen unanfechtbare relative chronologie, 1, Platons Gorgias, 2, die rede des Polykrates, 3, Platons Menon, Lysias für Sokrates, Isokrates Buseiris, diese letzten drei unter einander zunächst noch nicht datirbar. aber bekannte tatsachen fixiren mehrere einzelne und damit alle zwischen 394 und 390: sie schieben den Gorgias also höher hinauf. wessen com- binationen sich damit nicht vertragen, der muſs sie einfach fallen lassen. 88) wenn man für die orientalischen namen Lykon Autolykos Sokrates einsetzt. wer die personen, auch in den Memorabilien, mit der komoedie vergleicht, wird sehr oft bemerken, wo der schriftsteller, der die moderne naivetät, in den dialogen reali- täten zu suchen, nicht ahnen konnte, seine personalien über die zeitgenossen des Sokrates hergenommen hat. nur das urteil über die personen hat meist die erinnerung oder familienverbindung des ritters aus Herchia bestimmt. auch bei Antisthenes und Aischines kommen komoedienfiguren vor. Isokrates, der philister, ist dagegen für die komoedie taub.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/197>, abgerufen am 24.11.2024.