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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
sie hielten, haben die reden zuerst veröffentlicht. die redegewaltigen
lehrer und schriftsteller von beruf treten mit reden allgemeinerer haltung
auf den plan, aber einen politischen inhalt zwingt ihnen die fieberhitze
des kampfes auf, in dem sich Hellas verzehrt. Gorgias, der Chalkidier
aus dem westen, selbst heimatlos durch den bürgerkrieg geworden, ver-
kündet im epitaphios die grösse Athens, von dem er die herstellung
seiner heimatstadt hofft: dieser stolze hymnus gibt die stimmung wieder,
in der das volk sich für die kriegspläne des Alkibiades begeistern liess,
und ist ohne zweifel bald nach dem Nikiasfrieden veröffentlicht. im
sommer 408 hielt er in Olympia die rede, welche Hellas mahnte, lieber
gemeinsam gegen Persien vorzugehn als um die persische gunst zu
buhlen: es war die stimmung, die gerade damals spartanische anträge
nach Athen führte, und die Kallikratides bis zu seinem tode vertreten
hat.75) Thrasymachos, ebenfalls schon längst als lehrer und verfertiger

75) Die modernen sind seltsamer weise einig in der verwerfung der über-
lieferung und ihrem ersatze durch ungereimtheiten. wenn Apollodor sagt, dass
Gorgias 109 jahr ward, so ist das für uns das wahre: 105 ist durch alten schreib-
fehler (e aus th) entstanden. dass das todesjahr des berühmten mannes, der in
Thessalien als greis gelebt hatte, fest überliefert war, und er selbst für irgend einen
festen zeitpunkt sein alter angegeben hatte, kann kein verständiger bezweifeln.
Apollodor war also in der lage, genaues zu wissen, brauchte sich mit einem
epochenjahr für die akme nicht zu begnügen, und wenn ein ignorant wie Olym-
piodor ein solches für die abfassungszeit einer schrift des Gorgias angibt, so mag
ein verständiger chronologe diese schrift approximativ so bestimmt haben, für Gorgias
selbst hat das keine bedeutung. aber wenn ein mann wie Porphyrios die akme des
Gorgias selbst angibt, so bleibt zwar immer noch ein unerwünschter spielraum von
vier jahren, da sie nur auf die olympiade gestellt ist (was auf die überlieferer der
notiz des Porphyrios geschoben werden mag), aber es heisst doch so viel, dass die
blüte 460--57, die geburt 500--497, der tod 391--88 fällt. das ist überliefert.
Gorgias kam als ein berühmter mann 427 als gesandter nach Athen; vorher war er
schon im Peloponnes mit Empedokles zusammengewesen. gesandte pflegen uper
pentekonta ete zu sein, wenn sie nicht militärs sind. Platon, der Gorgias immer
mit aufrichtiger persönlicher hochachtung behandelt (wer es leugnet, muss den dialog
nur von ferne kennen), führt ihn immer als älter denn Sokrates ein. alle schüler
des Gorgias (Philippos, Agathon, Polos, Menon, Iason) sind im fünften jahrhundert
gebildet. er lebte freilich, als Platon den Gorgias schrieb, aber er war tot, als
Isokrates die Helene schrieb, und zwar gehörte er damals schon zu den leuten einer
überwundenen generation (dass die erhaltene Helene, gegen die Isokrates polemisirt,
deshalb nicht von ihm sein kann, hat Spengel darum nicht weniger bündig be-
wiesen, dass man ihn jetzt vergisst). es existirt einfach keine instanz, die mit der
überlieferten chronologie stritte. aber auch ein geistig frischer greis wird in der
litterarischen bewegung nur so stehn wie Gorgias bei Platon. in dem kampfe um
den stil, den erst viele thrioboloi, dann Platon und Isokrates führen, sind die kinder-

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
sie hielten, haben die reden zuerst veröffentlicht. die redegewaltigen
lehrer und schriftsteller von beruf treten mit reden allgemeinerer haltung
auf den plan, aber einen politischen inhalt zwingt ihnen die fieberhitze
des kampfes auf, in dem sich Hellas verzehrt. Gorgias, der Chalkidier
aus dem westen, selbst heimatlos durch den bürgerkrieg geworden, ver-
kündet im epitaphios die gröſse Athens, von dem er die herstellung
seiner heimatstadt hofft: dieser stolze hymnus gibt die stimmung wieder,
in der das volk sich für die kriegspläne des Alkibiades begeistern lieſs,
und ist ohne zweifel bald nach dem Nikiasfrieden veröffentlicht. im
sommer 408 hielt er in Olympia die rede, welche Hellas mahnte, lieber
gemeinsam gegen Persien vorzugehn als um die persische gunst zu
buhlen: es war die stimmung, die gerade damals spartanische anträge
nach Athen führte, und die Kallikratides bis zu seinem tode vertreten
hat.75) Thrasymachos, ebenfalls schon längst als lehrer und verfertiger

75) Die modernen sind seltsamer weise einig in der verwerfung der über-
lieferung und ihrem ersatze durch ungereimtheiten. wenn Apollodor sagt, daſs
Gorgias 109 jahr ward, so ist das für uns das wahre: 105 ist durch alten schreib-
fehler (ε΄ aus ϑ΄) entstanden. daſs das todesjahr des berühmten mannes, der in
Thessalien als greis gelebt hatte, fest überliefert war, und er selbst für irgend einen
festen zeitpunkt sein alter angegeben hatte, kann kein verständiger bezweifeln.
Apollodor war also in der lage, genaues zu wissen, brauchte sich mit einem
epochenjahr für die ἀκμή nicht zu begnügen, und wenn ein ignorant wie Olym-
piodor ein solches für die abfassungszeit einer schrift des Gorgias angibt, so mag
ein verständiger chronologe diese schrift approximativ so bestimmt haben, für Gorgias
selbst hat das keine bedeutung. aber wenn ein mann wie Porphyrios die ἀκμή des
Gorgias selbst angibt, so bleibt zwar immer noch ein unerwünschter spielraum von
vier jahren, da sie nur auf die olympiade gestellt ist (was auf die überlieferer der
notiz des Porphyrios geschoben werden mag), aber es heiſst doch so viel, daſs die
blüte 460—57, die geburt 500—497, der tod 391—88 fällt. das ist überliefert.
Gorgias kam als ein berühmter mann 427 als gesandter nach Athen; vorher war er
schon im Peloponnes mit Empedokles zusammengewesen. gesandte pflegen ὑπὲϱ
πεντήκοντα ἐτη zu sein, wenn sie nicht militärs sind. Platon, der Gorgias immer
mit aufrichtiger persönlicher hochachtung behandelt (wer es leugnet, muſs den dialog
nur von ferne kennen), führt ihn immer als älter denn Sokrates ein. alle schüler
des Gorgias (Philippos, Agathon, Polos, Menon, Iason) sind im fünften jahrhundert
gebildet. er lebte freilich, als Platon den Gorgias schrieb, aber er war tot, als
Isokrates die Helene schrieb, und zwar gehörte er damals schon zu den leuten einer
überwundenen generation (daſs die erhaltene Helene, gegen die Isokrates polemisirt,
deshalb nicht von ihm sein kann, hat Spengel darum nicht weniger bündig be-
wiesen, daſs man ihn jetzt vergiſst). es existirt einfach keine instanz, die mit der
überlieferten chronologie stritte. aber auch ein geistig frischer greis wird in der
litterarischen bewegung nur so stehn wie Gorgias bei Platon. in dem kampfe um
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[172/0186] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. sie hielten, haben die reden zuerst veröffentlicht. die redegewaltigen lehrer und schriftsteller von beruf treten mit reden allgemeinerer haltung auf den plan, aber einen politischen inhalt zwingt ihnen die fieberhitze des kampfes auf, in dem sich Hellas verzehrt. Gorgias, der Chalkidier aus dem westen, selbst heimatlos durch den bürgerkrieg geworden, ver- kündet im epitaphios die gröſse Athens, von dem er die herstellung seiner heimatstadt hofft: dieser stolze hymnus gibt die stimmung wieder, in der das volk sich für die kriegspläne des Alkibiades begeistern lieſs, und ist ohne zweifel bald nach dem Nikiasfrieden veröffentlicht. im sommer 408 hielt er in Olympia die rede, welche Hellas mahnte, lieber gemeinsam gegen Persien vorzugehn als um die persische gunst zu buhlen: es war die stimmung, die gerade damals spartanische anträge nach Athen führte, und die Kallikratides bis zu seinem tode vertreten hat. 75) Thrasymachos, ebenfalls schon längst als lehrer und verfertiger 75) Die modernen sind seltsamer weise einig in der verwerfung der über- lieferung und ihrem ersatze durch ungereimtheiten. wenn Apollodor sagt, daſs Gorgias 109 jahr ward, so ist das für uns das wahre: 105 ist durch alten schreib- fehler (ε΄ aus ϑ΄) entstanden. daſs das todesjahr des berühmten mannes, der in Thessalien als greis gelebt hatte, fest überliefert war, und er selbst für irgend einen festen zeitpunkt sein alter angegeben hatte, kann kein verständiger bezweifeln. Apollodor war also in der lage, genaues zu wissen, brauchte sich mit einem epochenjahr für die ἀκμή nicht zu begnügen, und wenn ein ignorant wie Olym- piodor ein solches für die abfassungszeit einer schrift des Gorgias angibt, so mag ein verständiger chronologe diese schrift approximativ so bestimmt haben, für Gorgias selbst hat das keine bedeutung. aber wenn ein mann wie Porphyrios die ἀκμή des Gorgias selbst angibt, so bleibt zwar immer noch ein unerwünschter spielraum von vier jahren, da sie nur auf die olympiade gestellt ist (was auf die überlieferer der notiz des Porphyrios geschoben werden mag), aber es heiſst doch so viel, daſs die blüte 460—57, die geburt 500—497, der tod 391—88 fällt. das ist überliefert. Gorgias kam als ein berühmter mann 427 als gesandter nach Athen; vorher war er schon im Peloponnes mit Empedokles zusammengewesen. gesandte pflegen ὑπὲϱ πεντήκοντα ἐτη zu sein, wenn sie nicht militärs sind. Platon, der Gorgias immer mit aufrichtiger persönlicher hochachtung behandelt (wer es leugnet, muſs den dialog nur von ferne kennen), führt ihn immer als älter denn Sokrates ein. alle schüler des Gorgias (Philippos, Agathon, Polos, Menon, Iason) sind im fünften jahrhundert gebildet. er lebte freilich, als Platon den Gorgias schrieb, aber er war tot, als Isokrates die Helene schrieb, und zwar gehörte er damals schon zu den leuten einer überwundenen generation (daſs die erhaltene Helene, gegen die Isokrates polemisirt, deshalb nicht von ihm sein kann, hat Spengel darum nicht weniger bündig be- wiesen, daſs man ihn jetzt vergiſst). es existirt einfach keine instanz, die mit der überlieferten chronologie stritte. aber auch ein geistig frischer greis wird in der litterarischen bewegung nur so stehn wie Gorgias bei Platon. in dem kampfe um den stil, den erst viele ϑϱιοβόλοι, dann Platon und Isokrates führen, sind die kinder-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/186>, abgerufen am 27.04.2024.