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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Die Peisistratiden. herkunft des aristotelischen berichtes.
gänger herabsieht, ist zwar durchaus begreiflich und ist ein charakteristischer
zug in dem bilde des grossen sophisten, aber es charakterisirt ihn doch als
sophisten; er steht zu Herodotos ganz wie Euripides zu Aischylos. die
ganze kluft, die die neue bildung gerissen hat, trennt diese wenig jüngeren
von den vorgängern, an die sie doch anknüpfen. weil er modern ist
wie Aristoteles, erscheint uns in vielem Thukydides etwas aristotelisches
zu haben. und ich glaube auch, dass etwas racenverwandtschaft zwischen
dem gutsherrn von Skaptehyle und dem Stagiriten ist. zu dem mythischen
verhalten sie sich ganz gleich, vollkommen indifferent, und sie sehen
beide in der weltgeschichte zwar kein spiel des zufalls, aber auch keine
tragoedie von gott gedichtet, vielmehr das kämpfen menschlicher leiden-
schaft und menschlicher einsicht, in dem der an einsicht und willens-
kraft stärkere den sieg behält, nicht die bessere sache. trotzdem ist
Thukydides für Aristoteles nicht, was er auch nur für unsere modernen
historiker sein kann, der musterhafte historiker: dazu war dieser ein zu
feiner beurteiler der stilistischen vollkommenheit und konnte schon als
künstler der attischen prosa in den thukydideischen reden nur archaische
versuche sehen. aber er hat auch einen nicht berechtigten widerwillen
gegen den inhalt seiner berichte. das hat lediglich in dem politischen
urteile seinen grund. Aristoteles sieht in dem attischen Reiche nur ein
gebilde der glücklichen habsucht eines zügellosen demos, in Perikles
einen volksverderber; die kriegerischen ereignisse sind ihm vollends lang-
weilig. wie sollte er da an dem werke gefallen finden, das in dem
Reiche die bedeutendste schöpfung, im peloponnesischen kriege die ge-
waltigste erschütterung der hellenischen welt, in Perikles den grössten
staatsmann schilderte? so lehnt er das beste was Thukydides geben
konnte von vorn herein ab. es blieb seine stolz zur schau getragene
zuversicht, das wahre zu geben: wer will es dem Aristoteles verdenken, dass
er mit genugtuung die gelegenheit wahrnimmt, wenn ihm zuverlässigere
informationen eine berichtigung des Thukydides gestatten?

Wo aber hat Aristoteles diese besseren nachrichten her? da erHerkunft
des aristo-
telischen
berichtes.

sowol in betreff des zeitpunktes, wann Timonassa geheiratet ward, wie
über eine einzelheit in der folterung des Aristogeiton auf einen wider-
streit in den sonst also übereinstimmenden berichten hinweist, hat er
nur das verdienst, die zuverlässigen forscher benutzt zu haben, nicht
das der forschung. diese schriftsteller sind nach Thukydides hervor-
getreten, da dieser sie mit absicht nicht wol verschmäht haben kann;
es war also noch im vierten jahrhundert möglich über ein ereignis des
ausgehenden sechsten einen glaubhaften detailbericht zu gewinnen, der

Die Peisistratiden. herkunft des aristotelischen berichtes.
gänger herabsieht, ist zwar durchaus begreiflich und ist ein charakteristischer
zug in dem bilde des groſsen sophisten, aber es charakterisirt ihn doch als
sophisten; er steht zu Herodotos ganz wie Euripides zu Aischylos. die
ganze kluft, die die neue bildung gerissen hat, trennt diese wenig jüngeren
von den vorgängern, an die sie doch anknüpfen. weil er modern ist
wie Aristoteles, erscheint uns in vielem Thukydides etwas aristotelisches
zu haben. und ich glaube auch, daſs etwas racenverwandtschaft zwischen
dem gutsherrn von Skaptehyle und dem Stagiriten ist. zu dem mythischen
verhalten sie sich ganz gleich, vollkommen indifferent, und sie sehen
beide in der weltgeschichte zwar kein spiel des zufalls, aber auch keine
tragoedie von gott gedichtet, vielmehr das kämpfen menschlicher leiden-
schaft und menschlicher einsicht, in dem der an einsicht und willens-
kraft stärkere den sieg behält, nicht die bessere sache. trotzdem ist
Thukydides für Aristoteles nicht, was er auch nur für unsere modernen
historiker sein kann, der musterhafte historiker: dazu war dieser ein zu
feiner beurteiler der stilistischen vollkommenheit und konnte schon als
künstler der attischen prosa in den thukydideischen reden nur archaische
versuche sehen. aber er hat auch einen nicht berechtigten widerwillen
gegen den inhalt seiner berichte. das hat lediglich in dem politischen
urteile seinen grund. Aristoteles sieht in dem attischen Reiche nur ein
gebilde der glücklichen habsucht eines zügellosen demos, in Perikles
einen volksverderber; die kriegerischen ereignisse sind ihm vollends lang-
weilig. wie sollte er da an dem werke gefallen finden, das in dem
Reiche die bedeutendste schöpfung, im peloponnesischen kriege die ge-
waltigste erschütterung der hellenischen welt, in Perikles den gröſsten
staatsmann schilderte? so lehnt er das beste was Thukydides geben
konnte von vorn herein ab. es blieb seine stolz zur schau getragene
zuversicht, das wahre zu geben: wer will es dem Aristoteles verdenken, daſs
er mit genugtuung die gelegenheit wahrnimmt, wenn ihm zuverlässigere
informationen eine berichtigung des Thukydides gestatten?

Wo aber hat Aristoteles diese besseren nachrichten her? da erHerkunft
des aristo-
telischen
berichtes.

sowol in betreff des zeitpunktes, wann Timonassa geheiratet ward, wie
über eine einzelheit in der folterung des Aristogeiton auf einen wider-
streit in den sonst also übereinstimmenden berichten hinweist, hat er
nur das verdienst, die zuverlässigen forscher benutzt zu haben, nicht
das der forschung. diese schriftsteller sind nach Thukydides hervor-
getreten, da dieser sie mit absicht nicht wol verschmäht haben kann;
es war also noch im vierten jahrhundert möglich über ein ereignis des
ausgehenden sechsten einen glaubhaften detailbericht zu gewinnen, der

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[117/0131] Die Peisistratiden. herkunft des aristotelischen berichtes. gänger herabsieht, ist zwar durchaus begreiflich und ist ein charakteristischer zug in dem bilde des groſsen sophisten, aber es charakterisirt ihn doch als sophisten; er steht zu Herodotos ganz wie Euripides zu Aischylos. die ganze kluft, die die neue bildung gerissen hat, trennt diese wenig jüngeren von den vorgängern, an die sie doch anknüpfen. weil er modern ist wie Aristoteles, erscheint uns in vielem Thukydides etwas aristotelisches zu haben. und ich glaube auch, daſs etwas racenverwandtschaft zwischen dem gutsherrn von Skaptehyle und dem Stagiriten ist. zu dem mythischen verhalten sie sich ganz gleich, vollkommen indifferent, und sie sehen beide in der weltgeschichte zwar kein spiel des zufalls, aber auch keine tragoedie von gott gedichtet, vielmehr das kämpfen menschlicher leiden- schaft und menschlicher einsicht, in dem der an einsicht und willens- kraft stärkere den sieg behält, nicht die bessere sache. trotzdem ist Thukydides für Aristoteles nicht, was er auch nur für unsere modernen historiker sein kann, der musterhafte historiker: dazu war dieser ein zu feiner beurteiler der stilistischen vollkommenheit und konnte schon als künstler der attischen prosa in den thukydideischen reden nur archaische versuche sehen. aber er hat auch einen nicht berechtigten widerwillen gegen den inhalt seiner berichte. das hat lediglich in dem politischen urteile seinen grund. Aristoteles sieht in dem attischen Reiche nur ein gebilde der glücklichen habsucht eines zügellosen demos, in Perikles einen volksverderber; die kriegerischen ereignisse sind ihm vollends lang- weilig. wie sollte er da an dem werke gefallen finden, das in dem Reiche die bedeutendste schöpfung, im peloponnesischen kriege die ge- waltigste erschütterung der hellenischen welt, in Perikles den gröſsten staatsmann schilderte? so lehnt er das beste was Thukydides geben konnte von vorn herein ab. es blieb seine stolz zur schau getragene zuversicht, das wahre zu geben: wer will es dem Aristoteles verdenken, daſs er mit genugtuung die gelegenheit wahrnimmt, wenn ihm zuverlässigere informationen eine berichtigung des Thukydides gestatten? Wo aber hat Aristoteles diese besseren nachrichten her? da er sowol in betreff des zeitpunktes, wann Timonassa geheiratet ward, wie über eine einzelheit in der folterung des Aristogeiton auf einen wider- streit in den sonst also übereinstimmenden berichten hinweist, hat er nur das verdienst, die zuverlässigen forscher benutzt zu haben, nicht das der forschung. diese schriftsteller sind nach Thukydides hervor- getreten, da dieser sie mit absicht nicht wol verschmäht haben kann; es war also noch im vierten jahrhundert möglich über ein ereignis des ausgehenden sechsten einen glaubhaften detailbericht zu gewinnen, der Herkunft des aristo- telischen berichtes.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/131>, abgerufen am 06.05.2024.