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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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den mördern zu hilfe kommen konnten. das fällt also weg. nach seinem
berichte erscheint es so, als wäre die zurückweisung der schwester des
Harmodios von der procession der korbträgerinnen längere zeit vor den
Panathenaeen erfolgt, und wäre dann der anschlag von langer hand vor-
bereitet. nach Aristoteles geht es schlag auf schlag, und die korbtragen-
den mädchen gehn ja auch in derselben procession wie die bürger.
die beleidigung und die rache folgen so fast unmittelbar auf einander,
die geschichte wird in sich geschlossener, wahrscheinlicher, aber noch
mehr als bei Thukydides erhält sie den character des plötzlichen und
persönlichen. dafür wächst ihre politische bedeutung, da es in der tat
auf eine revolution abgesehen war, nicht auf den austrag eines ehren-
handels. war doch der beleidiger keiner der tyrannen, sondern nur ein
bastardbruder von ihnen, und der getötete zwar ein harmloser mann,
der wenig gebrauch von dem anrecht auf die herrschaft machte, aber
immerhin als ächter bruder des Hippias dem rechte nach sein mitregent:
Aristoteles rechnet durchaus mit der herrschaft der Peisistratiden, nicht
mit der des Hippias. und da die tollkühne tat der tyrannenmörder die
stimmung des Hippias wider die Athener und andererseits die der Athener
wider sein haus änderte, haben Harmodios und Aristogeiton den un-
geheuren und einzigen ruhm, Athen befreit zu haben, zwar ohne eignes
verdienst erhalten, aber den anstoss zum sturze der tyrannis haben sie
allerdings gegeben, wie das die allgemeine ansicht des altertums gewesen
und geblieben ist trotz Thukydides, und wie es Aristoteles bekanntlich in
der Politik (E 10, 1312a) ausspricht, ganz im einklang mit der Politie
und mit Platon (Symp. 182c).

Für uns war die stärkste überraschung, dass der liebhaber des Har-
modios nicht Hipparchos sondern Thessalos gewesen ist, denn dem auszuge
des Herakleides, in dem es schon stand, hatten wir das wirklich nicht
glauben können. da sich im gedächtnis der menschen gar zu leicht die
wirklichkeit so verschieben konnte, dass der getötete auch der schuldige ward,
so werden wir dem Aristoteles unbedingt glauben, zumal sich Thukydides
nur auf mündliche, wenn auch von ihm besonders geschätzte, überlieferung
beruft (6, 55). aber es muss die ganze familiengeschichte des Peisistratos
nunmehr nachgeprüft werden. offenbar ist sich Aristoteles bewusst, viel-
fachen irrtümern gegenüber die wahrheit zu sagen, wenn er angibt, dass
nur Hippias und Hipparchos eheliche söhne waren, ausserdem aber noch
zwei bastarde vorhanden waren, aus einer ehe mit Timonassa aus Argos,
über deren abkunft und vorgeschichte er sich sehr präcis äussert. dass
die mutter der späteren tyrannen gamete heisst, und doch egemen ex

I. 5. Thukydides.
den mördern zu hilfe kommen konnten. das fällt also weg. nach seinem
berichte erscheint es so, als wäre die zurückweisung der schwester des
Harmodios von der procession der korbträgerinnen längere zeit vor den
Panathenaeen erfolgt, und wäre dann der anschlag von langer hand vor-
bereitet. nach Aristoteles geht es schlag auf schlag, und die korbtragen-
den mädchen gehn ja auch in derselben procession wie die bürger.
die beleidigung und die rache folgen so fast unmittelbar auf einander,
die geschichte wird in sich geschlossener, wahrscheinlicher, aber noch
mehr als bei Thukydides erhält sie den character des plötzlichen und
persönlichen. dafür wächst ihre politische bedeutung, da es in der tat
auf eine revolution abgesehen war, nicht auf den austrag eines ehren-
handels. war doch der beleidiger keiner der tyrannen, sondern nur ein
bastardbruder von ihnen, und der getötete zwar ein harmloser mann,
der wenig gebrauch von dem anrecht auf die herrschaft machte, aber
immerhin als ächter bruder des Hippias dem rechte nach sein mitregent:
Aristoteles rechnet durchaus mit der herrschaft der Peisistratiden, nicht
mit der des Hippias. und da die tollkühne tat der tyrannenmörder die
stimmung des Hippias wider die Athener und andererseits die der Athener
wider sein haus änderte, haben Harmodios und Aristogeiton den un-
geheuren und einzigen ruhm, Athen befreit zu haben, zwar ohne eignes
verdienst erhalten, aber den anstoſs zum sturze der tyrannis haben sie
allerdings gegeben, wie das die allgemeine ansicht des altertums gewesen
und geblieben ist trotz Thukydides, und wie es Aristoteles bekanntlich in
der Politik (E 10, 1312a) ausspricht, ganz im einklang mit der Politie
und mit Platon (Symp. 182c).

Für uns war die stärkste überraschung, daſs der liebhaber des Har-
modios nicht Hipparchos sondern Thessalos gewesen ist, denn dem auszuge
des Herakleides, in dem es schon stand, hatten wir das wirklich nicht
glauben können. da sich im gedächtnis der menschen gar zu leicht die
wirklichkeit so verschieben konnte, daſs der getötete auch der schuldige ward,
so werden wir dem Aristoteles unbedingt glauben, zumal sich Thukydides
nur auf mündliche, wenn auch von ihm besonders geschätzte, überlieferung
beruft (6, 55). aber es muſs die ganze familiengeschichte des Peisistratos
nunmehr nachgeprüft werden. offenbar ist sich Aristoteles bewuſst, viel-
fachen irrtümern gegenüber die wahrheit zu sagen, wenn er angibt, daſs
nur Hippias und Hipparchos eheliche söhne waren, auſserdem aber noch
zwei bastarde vorhanden waren, aus einer ehe mit Timonassa aus Argos,
über deren abkunft und vorgeschichte er sich sehr präcis äuſsert. daſs
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[110/0124] I. 5. Thukydides. den mördern zu hilfe kommen konnten. das fällt also weg. nach seinem berichte erscheint es so, als wäre die zurückweisung der schwester des Harmodios von der procession der korbträgerinnen längere zeit vor den Panathenaeen erfolgt, und wäre dann der anschlag von langer hand vor- bereitet. nach Aristoteles geht es schlag auf schlag, und die korbtragen- den mädchen gehn ja auch in derselben procession wie die bürger. die beleidigung und die rache folgen so fast unmittelbar auf einander, die geschichte wird in sich geschlossener, wahrscheinlicher, aber noch mehr als bei Thukydides erhält sie den character des plötzlichen und persönlichen. dafür wächst ihre politische bedeutung, da es in der tat auf eine revolution abgesehen war, nicht auf den austrag eines ehren- handels. war doch der beleidiger keiner der tyrannen, sondern nur ein bastardbruder von ihnen, und der getötete zwar ein harmloser mann, der wenig gebrauch von dem anrecht auf die herrschaft machte, aber immerhin als ächter bruder des Hippias dem rechte nach sein mitregent: Aristoteles rechnet durchaus mit der herrschaft der Peisistratiden, nicht mit der des Hippias. und da die tollkühne tat der tyrannenmörder die stimmung des Hippias wider die Athener und andererseits die der Athener wider sein haus änderte, haben Harmodios und Aristogeiton den un- geheuren und einzigen ruhm, Athen befreit zu haben, zwar ohne eignes verdienst erhalten, aber den anstoſs zum sturze der tyrannis haben sie allerdings gegeben, wie das die allgemeine ansicht des altertums gewesen und geblieben ist trotz Thukydides, und wie es Aristoteles bekanntlich in der Politik (E 10, 1312a) ausspricht, ganz im einklang mit der Politie und mit Platon (Symp. 182c). Für uns war die stärkste überraschung, daſs der liebhaber des Har- modios nicht Hipparchos sondern Thessalos gewesen ist, denn dem auszuge des Herakleides, in dem es schon stand, hatten wir das wirklich nicht glauben können. da sich im gedächtnis der menschen gar zu leicht die wirklichkeit so verschieben konnte, daſs der getötete auch der schuldige ward, so werden wir dem Aristoteles unbedingt glauben, zumal sich Thukydides nur auf mündliche, wenn auch von ihm besonders geschätzte, überlieferung beruft (6, 55). aber es muſs die ganze familiengeschichte des Peisistratos nunmehr nachgeprüft werden. offenbar ist sich Aristoteles bewuſst, viel- fachen irrtümern gegenüber die wahrheit zu sagen, wenn er angibt, daſs nur Hippias und Hipparchos eheliche söhne waren, auſserdem aber noch zwei bastarde vorhanden waren, aus einer ehe mit Timonassa aus Argos, über deren abkunft und vorgeschichte er sich sehr präcis äuſsert. daſs die mutter der späteren tyrannen γαμετή heiſst, und doch ἔγημεν ἐξ

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/124>, abgerufen am 06.05.2024.