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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 4. Drakons verfassung.
des tyrannen; die strategie ist eben deshalb die staffel zur tyrannis ge-
worden, weil sie wahlamt war, keinesweges, weil der feldherr an der
spitze des bürgerheeres die bürger hätte knechten können. gerade
eine aristokratie perhorrescirt die persönlichen vorzüge und die bevor-
zugung des einzelnen standesgenossen: ihr passt das blinde los, wenn
nur vorgesorgt ist, dass es an den stand gebunden ist. das war hier
erreicht, und da, wo alle bürger zugelassen waren, herrschte in wahrheit
nicht das los, sondern der turnus. der zufall schafft keine geschlossenen
majoritäten; der rat, den er bildete, stand dem Areopag, der dem be-
vorrechteten stande gehörte, ganz ungefährlich gegenüber. das ist wol
wahr, dass der drakontische rat, wenn er ihn denn wirklich erst ge-
schaffen hat, was wir im gefühle unserer unsicherheit gelten lassen
müssen, schliesslich der rat des Ephialtes geworden ist, der eigentliche
herr Athens: aber so wie ihn Drakon erlosen liess, war er noch längst
keine gefahr, eben weil er erlost ward.

Die
volksver-
sammlung.
Es kommt hinzu, dass die volksversammlung eine institution ist,
die Homer allerorten kennt, die selbst in dem verknöcherten Sparta
immer zu recht bestanden hat. in dem berichte über Drakon ist sie fort-
gelassen; die oligarchen von 411 haben sie selbst zu gunsten des rates
beseitigt. ich glaube gar nicht, dass Drakon das auch getan hat; sie
wird die strategen auch damals gewählt haben und die entscheidung in
den wichtigsten sachen, wie über krieg und frieden, wird man dem
nominellen souverän nicht entzogen haben. aber es ist doch bezeichnend,
dass sie fortgelassen werden konnte. sie verliert eben an bedeutung, wenn
ein an köpfen so starker rat da ist, und wenn dieser gar neu eingesetzt
wird, ist die beschränkung der versammlungen der gesammtgemeinde
ein ganz notwendiges complement. das konnte den Areopagiten schon
recht sein. wenn sie auch nur murren oder klatschen darf: dass sie
ihrer zahl sich bewusst wird, macht schon allein die volksmasse wider
eine herrschende minderzahl aufsässig. es gibt also eine seite der be-
trachtung, von der aus der rat sogar lediglich durch das wolverstandene
oligarchische interesse gefordert erscheint.

Magistrat
und
consilium.
Es muss hier eine allgemein giltige erwägung als ein wichtiger
factor eingesetzt werden. nicht nur in Athen oder den hellenischen
demokratieen, sondern in ziemlich allen staaten heisst später die eigent-
lich regierende behörde rat, boule. darum muss man sich erst darauf
besinnen, dass in dieser bezeichnung bei dieser macht ein völliger um-
schwung der verhältnisse ausgesprochen ist, der den namen selbst in das
volle gegenteil seiner bedeutung verkehrt hat. eine behörde, die rat

I. 4. Drakons verfassung.
des tyrannen; die strategie ist eben deshalb die staffel zur tyrannis ge-
worden, weil sie wahlamt war, keinesweges, weil der feldherr an der
spitze des bürgerheeres die bürger hätte knechten können. gerade
eine aristokratie perhorrescirt die persönlichen vorzüge und die bevor-
zugung des einzelnen standesgenossen: ihr paſst das blinde los, wenn
nur vorgesorgt ist, daſs es an den stand gebunden ist. das war hier
erreicht, und da, wo alle bürger zugelassen waren, herrschte in wahrheit
nicht das los, sondern der turnus. der zufall schafft keine geschlossenen
majoritäten; der rat, den er bildete, stand dem Areopag, der dem be-
vorrechteten stande gehörte, ganz ungefährlich gegenüber. das ist wol
wahr, daſs der drakontische rat, wenn er ihn denn wirklich erst ge-
schaffen hat, was wir im gefühle unserer unsicherheit gelten lassen
müssen, schlieſslich der rat des Ephialtes geworden ist, der eigentliche
herr Athens: aber so wie ihn Drakon erlosen lieſs, war er noch längst
keine gefahr, eben weil er erlost ward.

Die
volksver-
sammlung.
Es kommt hinzu, daſs die volksversammlung eine institution ist,
die Homer allerorten kennt, die selbst in dem verknöcherten Sparta
immer zu recht bestanden hat. in dem berichte über Drakon ist sie fort-
gelassen; die oligarchen von 411 haben sie selbst zu gunsten des rates
beseitigt. ich glaube gar nicht, daſs Drakon das auch getan hat; sie
wird die strategen auch damals gewählt haben und die entscheidung in
den wichtigsten sachen, wie über krieg und frieden, wird man dem
nominellen souverän nicht entzogen haben. aber es ist doch bezeichnend,
daſs sie fortgelassen werden konnte. sie verliert eben an bedeutung, wenn
ein an köpfen so starker rat da ist, und wenn dieser gar neu eingesetzt
wird, ist die beschränkung der versammlungen der gesammtgemeinde
ein ganz notwendiges complement. das konnte den Areopagiten schon
recht sein. wenn sie auch nur murren oder klatschen darf: daſs sie
ihrer zahl sich bewuſst wird, macht schon allein die volksmasse wider
eine herrschende minderzahl aufsässig. es gibt also eine seite der be-
trachtung, von der aus der rat sogar lediglich durch das wolverstandene
oligarchische interesse gefordert erscheint.

Magistrat
und
consilium.
Es muſs hier eine allgemein giltige erwägung als ein wichtiger
factor eingesetzt werden. nicht nur in Athen oder den hellenischen
demokratieen, sondern in ziemlich allen staaten heiſst später die eigent-
lich regierende behörde rat, βουλή. darum muſs man sich erst darauf
besinnen, daſs in dieser bezeichnung bei dieser macht ein völliger um-
schwung der verhältnisse ausgesprochen ist, der den namen selbst in das
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[90/0104] I. 4. Drakons verfassung. des tyrannen; die strategie ist eben deshalb die staffel zur tyrannis ge- worden, weil sie wahlamt war, keinesweges, weil der feldherr an der spitze des bürgerheeres die bürger hätte knechten können. gerade eine aristokratie perhorrescirt die persönlichen vorzüge und die bevor- zugung des einzelnen standesgenossen: ihr paſst das blinde los, wenn nur vorgesorgt ist, daſs es an den stand gebunden ist. das war hier erreicht, und da, wo alle bürger zugelassen waren, herrschte in wahrheit nicht das los, sondern der turnus. der zufall schafft keine geschlossenen majoritäten; der rat, den er bildete, stand dem Areopag, der dem be- vorrechteten stande gehörte, ganz ungefährlich gegenüber. das ist wol wahr, daſs der drakontische rat, wenn er ihn denn wirklich erst ge- schaffen hat, was wir im gefühle unserer unsicherheit gelten lassen müssen, schlieſslich der rat des Ephialtes geworden ist, der eigentliche herr Athens: aber so wie ihn Drakon erlosen lieſs, war er noch längst keine gefahr, eben weil er erlost ward. Es kommt hinzu, daſs die volksversammlung eine institution ist, die Homer allerorten kennt, die selbst in dem verknöcherten Sparta immer zu recht bestanden hat. in dem berichte über Drakon ist sie fort- gelassen; die oligarchen von 411 haben sie selbst zu gunsten des rates beseitigt. ich glaube gar nicht, daſs Drakon das auch getan hat; sie wird die strategen auch damals gewählt haben und die entscheidung in den wichtigsten sachen, wie über krieg und frieden, wird man dem nominellen souverän nicht entzogen haben. aber es ist doch bezeichnend, daſs sie fortgelassen werden konnte. sie verliert eben an bedeutung, wenn ein an köpfen so starker rat da ist, und wenn dieser gar neu eingesetzt wird, ist die beschränkung der versammlungen der gesammtgemeinde ein ganz notwendiges complement. das konnte den Areopagiten schon recht sein. wenn sie auch nur murren oder klatschen darf: daſs sie ihrer zahl sich bewuſst wird, macht schon allein die volksmasse wider eine herrschende minderzahl aufsässig. es gibt also eine seite der be- trachtung, von der aus der rat sogar lediglich durch das wolverstandene oligarchische interesse gefordert erscheint. Die volksver- sammlung. Es muſs hier eine allgemein giltige erwägung als ein wichtiger factor eingesetzt werden. nicht nur in Athen oder den hellenischen demokratieen, sondern in ziemlich allen staaten heiſst später die eigent- lich regierende behörde rat, βουλή. darum muſs man sich erst darauf besinnen, daſs in dieser bezeichnung bei dieser macht ein völliger um- schwung der verhältnisse ausgesprochen ist, der den namen selbst in das volle gegenteil seiner bedeutung verkehrt hat. eine behörde, die rat Magistrat und consilium.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/104>, abgerufen am 27.04.2024.