uns ist der Ausdruck und die Wahrheit nur be¬ schämend, wir ahnen, was wir sein sollten und fühlen, was wir nicht sind. Wir repräsentiren nicht unsere eigene Welt, wir tragen nur eine fremde zur Schau, unsere Gebildeten, unsere Dichter und Denker begnügen sich damit, die Welt in kalter Geschliffenheit wieder abzuspiegeln, unsere Gelehrten dünken sich eine Welt zu sein, wenn sie sich eine Welt von Gedanken, Sachen, Zahlen und Wörtern in den Kopf gelernt haben.
Daher, klein genug sind wir, aber wo bleibt unsere Welt, die lebendig organische Ganzheit, die gesunde, vollblühende Gegenwart? Die kleinste Alpenrose beschämt uns. Sie hat ein pulsirendes Herz, Lebenseinheit, sie gleicht einer Welt im Kleinen. Was uns geistig zusammenhält, ist nicht innerer Hauch, nicht polarische Attraktion, sondern gemeine Kohäsion. Die Alpenrose mit ihren klaren, klugen Augen ist auf ihre Weise auch nicht ungelehrt, sie ist eine kleine Studentin, hört Kollegia über Felserde, Wetterkunde, Thautro¬ pfen, Frühlingsathem, aber sie weiß Alles besser in succum et sanguinem zu vertiren, das ist bei uns nur eine schulfüchsische Redensart, womit wir unser ödes, lateinisches Treiben selbst verspotten.
Das Leben ist des Lebens höchster Zweck und höher kann es kein Mensch bringen, als den leben¬
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uns iſt der Ausdruck und die Wahrheit nur be¬ ſchaͤmend, wir ahnen, was wir ſein ſollten und fuͤhlen, was wir nicht ſind. Wir repraͤſentiren nicht unſere eigene Welt, wir tragen nur eine fremde zur Schau, unſere Gebildeten, unſere Dichter und Denker begnuͤgen ſich damit, die Welt in kalter Geſchliffenheit wieder abzuſpiegeln, unſere Gelehrten duͤnken ſich eine Welt zu ſein, wenn ſie ſich eine Welt von Gedanken, Sachen, Zahlen und Woͤrtern in den Kopf gelernt haben.
Daher, klein genug ſind wir, aber wo bleibt unſere Welt, die lebendig organiſche Ganzheit, die geſunde, vollbluͤhende Gegenwart? Die kleinſte Alpenroſe beſchaͤmt uns. Sie hat ein pulſirendes Herz, Lebenseinheit, ſie gleicht einer Welt im Kleinen. Was uns geiſtig zuſammenhaͤlt, iſt nicht innerer Hauch, nicht polariſche Attraktion, ſondern gemeine Kohaͤſion. Die Alpenroſe mit ihren klaren, klugen Augen iſt auf ihre Weiſe auch nicht ungelehrt, ſie iſt eine kleine Studentin, hoͤrt Kollegia uͤber Felserde, Wetterkunde, Thautro¬ pfen, Fruͤhlingsathem, aber ſie weiß Alles beſſer in succum et sanguinem zu vertiren, das iſt bei uns nur eine ſchulfuͤchſiſche Redensart, womit wir unſer oͤdes, lateiniſches Treiben ſelbſt verſpotten.
Das Leben iſt des Lebens hoͤchſter Zweck und hoͤher kann es kein Menſch bringen, als den leben¬
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uns iſt der Ausdruck und die Wahrheit nur be¬
ſchaͤmend, wir ahnen, was wir ſein ſollten und
fuͤhlen, was wir nicht ſind. Wir repraͤſentiren
nicht unſere eigene Welt, wir tragen nur eine
fremde zur Schau, unſere Gebildeten, unſere
Dichter und Denker begnuͤgen ſich damit, die
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unſere Gelehrten duͤnken ſich eine Welt zu ſein,
wenn ſie ſich eine Welt von Gedanken, Sachen,
Zahlen und Woͤrtern in den Kopf gelernt haben.
Daher, klein genug ſind wir, aber wo bleibt
unſere Welt, die lebendig organiſche Ganzheit, die
geſunde, vollbluͤhende Gegenwart? Die kleinſte
Alpenroſe beſchaͤmt uns. Sie hat ein pulſirendes
Herz, Lebenseinheit, ſie gleicht einer Welt im
Kleinen. Was uns geiſtig zuſammenhaͤlt, iſt
nicht innerer Hauch, nicht polariſche Attraktion,
ſondern gemeine Kohaͤſion. Die Alpenroſe mit
ihren klaren, klugen Augen iſt auf ihre Weiſe auch
nicht ungelehrt, ſie iſt eine kleine Studentin, hoͤrt
Kollegia uͤber Felserde, Wetterkunde, Thautro¬
pfen, Fruͤhlingsathem, aber ſie weiß Alles beſſer
in succum et sanguinem zu vertiren, das iſt bei
uns nur eine ſchulfuͤchſiſche Redensart, womit wir
unſer oͤdes, lateiniſches Treiben ſelbſt verſpotten.
Das Leben iſt des Lebens hoͤchſter Zweck und
hoͤher kann es kein Menſch bringen, als den leben¬
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/87>, abgerufen am 01.05.2024.
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