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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

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als ob ich jeder neuen und neuesten Lyrik, welche
diesen Charakter nicht trägt, den Stab brechen
wollte; ich erkenne sie nur nicht für voll an, ich
spreche ihr nur das Herz und den Geist der Zeit
ab, ohne dem Dichter Herz und Geist a priori
persönlich abzusprechen. Viel Zutrauen habe
ich freilich nicht zu dem poetischen Verdienst eines
neuen Gedichts, oder einer neuen Gedichtsamm¬
lung, von der man mir im Voraus sagt, es seien
nichts als poetische Büsche, Felsen, Seufzer, Rit¬
ter, Tournire, Festgesänge, Reisen, Spatziergänge
und dergleichen zensurfreie und unschuldige Sächel¬
chen darin, die ganz und gar keinen Bezug auf
die Stimmung der Zeit hätten -- Gott sei es
geklagt, jede Leipziger Messe bringt uns einige
Scheffel von diesem Klingklang- und Singsang¬
sachen deutscher Musenjünglinge, die es nicht ver¬
antworten zu können glauben, ihren Namen der
Nachwelt vorzuenthalten. Dagegen kenne ich auch
liebliche Gedichte der süddeutschen Sängerschule,
die Uhland als ihr Haupt anerkennt, die, so zeit¬
los und einfach sie auch sind, mich in Momenten
eben so sehr erfreuen, als z. B. auch die liebens¬
würdige Persönlichkeit eines Süddeutschen, der
unter Bergen und Reben, in der Nähe von alten
Kloster- und Burgruinen aufgewachsen, mir hei¬
ter und unbefangen seine glückliche Beschränktheit

als ob ich jeder neuen und neueſten Lyrik, welche
dieſen Charakter nicht traͤgt, den Stab brechen
wollte; ich erkenne ſie nur nicht fuͤr voll an, ich
ſpreche ihr nur das Herz und den Geiſt der Zeit
ab, ohne dem Dichter Herz und Geiſt a priori
perſoͤnlich abzuſprechen. Viel Zutrauen habe
ich freilich nicht zu dem poetiſchen Verdienſt eines
neuen Gedichts, oder einer neuen Gedichtſamm¬
lung, von der man mir im Voraus ſagt, es ſeien
nichts als poetiſche Buͤſche, Felſen, Seufzer, Rit¬
ter, Tournire, Feſtgeſaͤnge, Reiſen, Spatziergaͤnge
und dergleichen zenſurfreie und unſchuldige Saͤchel¬
chen darin, die ganz und gar keinen Bezug auf
die Stimmung der Zeit haͤtten — Gott ſei es
geklagt, jede Leipziger Meſſe bringt uns einige
Scheffel von dieſem Klingklang- und Singſang¬
ſachen deutſcher Muſenjuͤnglinge, die es nicht ver¬
antworten zu koͤnnen glauben, ihren Namen der
Nachwelt vorzuenthalten. Dagegen kenne ich auch
liebliche Gedichte der ſuͤddeutſchen Saͤngerſchule,
die Uhland als ihr Haupt anerkennt, die, ſo zeit¬
los und einfach ſie auch ſind, mich in Momenten
eben ſo ſehr erfreuen, als z. B. auch die liebens¬
wuͤrdige Perſoͤnlichkeit eines Suͤddeutſchen, der
unter Bergen und Reben, in der Naͤhe von alten
Kloſter- und Burgruinen aufgewachſen, mir hei¬
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[276/0290] als ob ich jeder neuen und neueſten Lyrik, welche dieſen Charakter nicht traͤgt, den Stab brechen wollte; ich erkenne ſie nur nicht fuͤr voll an, ich ſpreche ihr nur das Herz und den Geiſt der Zeit ab, ohne dem Dichter Herz und Geiſt a priori perſoͤnlich abzuſprechen. Viel Zutrauen habe ich freilich nicht zu dem poetiſchen Verdienſt eines neuen Gedichts, oder einer neuen Gedichtſamm¬ lung, von der man mir im Voraus ſagt, es ſeien nichts als poetiſche Buͤſche, Felſen, Seufzer, Rit¬ ter, Tournire, Feſtgeſaͤnge, Reiſen, Spatziergaͤnge und dergleichen zenſurfreie und unſchuldige Saͤchel¬ chen darin, die ganz und gar keinen Bezug auf die Stimmung der Zeit haͤtten — Gott ſei es geklagt, jede Leipziger Meſſe bringt uns einige Scheffel von dieſem Klingklang- und Singſang¬ ſachen deutſcher Muſenjuͤnglinge, die es nicht ver¬ antworten zu koͤnnen glauben, ihren Namen der Nachwelt vorzuenthalten. Dagegen kenne ich auch liebliche Gedichte der ſuͤddeutſchen Saͤngerſchule, die Uhland als ihr Haupt anerkennt, die, ſo zeit¬ los und einfach ſie auch ſind, mich in Momenten eben ſo ſehr erfreuen, als z. B. auch die liebens¬ wuͤrdige Perſoͤnlichkeit eines Suͤddeutſchen, der unter Bergen und Reben, in der Naͤhe von alten Kloſter- und Burgruinen aufgewachſen, mir hei¬ ter und unbefangen ſeine gluͤckliche Beſchraͤnktheit

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Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/290>, abgerufen am 02.05.2024.