her, und spurlos verschwindet, wenn sie Abschied nimmt. So kam die Poesie zu den Deutschen, so lasen sie Schiller's und Goethe's Gedichte, so sahen sie den Tell auf der Bühne, und wenn die Poesie wieder weggegangen war, so war ihre Spur verloren und des Philisteriums breite, ausgetretene Fußstapfen wurden betreten, nach wie vor.
Gegenwärtig ist es freilich anders. Nicht, daß wir schöner lebten; doch fühlen wir allmählig Sehnsucht danach und es fängt uns an zu däm¬ mern von einer Poesie des Lebens, die aller Kunst¬ poesie Mutter ist und zwar mater, filia pulchrior. Die großen Dichter sind todt und wir grämen uns nicht so sehr darüber, überall sind wir mehr gleich¬ gültig gegen Kunst und Poesie geworden, in dem Verstand, worin beide bisher gepflegt, auch Das nenne ich ein gutes Zeichen, auch dieses, daß die sogenannte Prosa, die ungebundene Rede wirklich ungebundener und poetischer zu strömen anfängt, als bisher, wo die Prosa eben den von den Stri¬ cken der Philister gebundenen Simson vorstellte und die sogenannte gebundene Rede, die Poesie, schrankenlos umherschwärmte.
Unsere Dichter sind prosaischer geworden, un¬ sere Prosaiker aber poetischer, und das ist ein be¬ deutsamer Wechsel, ein Wechsel, der zu den er¬ freulichen Zeichen und Erscheinungen der Zeit ge¬
her, und ſpurlos verſchwindet, wenn ſie Abſchied nimmt. So kam die Poeſie zu den Deutſchen, ſo laſen ſie Schiller's und Goethe's Gedichte, ſo ſahen ſie den Tell auf der Buͤhne, und wenn die Poeſie wieder weggegangen war, ſo war ihre Spur verloren und des Philiſteriums breite, ausgetretene Fußſtapfen wurden betreten, nach wie vor.
Gegenwaͤrtig iſt es freilich anders. Nicht, daß wir ſchoͤner lebten; doch fuͤhlen wir allmaͤhlig Sehnſucht danach und es faͤngt uns an zu daͤm¬ mern von einer Poeſie des Lebens, die aller Kunſt¬ poeſie Mutter iſt und zwar mater, filia pulchrior. Die großen Dichter ſind todt und wir graͤmen uns nicht ſo ſehr daruͤber, uͤberall ſind wir mehr gleich¬ guͤltig gegen Kunſt und Poeſie geworden, in dem Verſtand, worin beide bisher gepflegt, auch Das nenne ich ein gutes Zeichen, auch dieſes, daß die ſogenannte Proſa, die ungebundene Rede wirklich ungebundener und poetiſcher zu ſtroͤmen anfaͤngt, als bisher, wo die Proſa eben den von den Stri¬ cken der Philiſter gebundenen Simſon vorſtellte und die ſogenannte gebundene Rede, die Poeſie, ſchrankenlos umherſchwaͤrmte.
Unſere Dichter ſind proſaiſcher geworden, un¬ ſere Proſaiker aber poetiſcher, und das iſt ein be¬ deutſamer Wechſel, ein Wechſel, der zu den er¬ freulichen Zeichen und Erſcheinungen der Zeit ge¬
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her, und ſpurlos verſchwindet, wenn ſie Abſchied
nimmt. So kam die Poeſie zu den Deutſchen,
ſo laſen ſie Schiller's und Goethe's Gedichte, ſo
ſahen ſie den Tell auf der Buͤhne, und wenn die
Poeſie wieder weggegangen war, ſo war ihre Spur
verloren und des Philiſteriums breite, ausgetretene
Fußſtapfen wurden betreten, nach wie vor.
Gegenwaͤrtig iſt es freilich anders. Nicht,
daß wir ſchoͤner lebten; doch fuͤhlen wir allmaͤhlig
Sehnſucht danach und es faͤngt uns an zu daͤm¬
mern von einer Poeſie des Lebens, die aller Kunſt¬
poeſie Mutter iſt und zwar mater, filia pulchrior.
Die großen Dichter ſind todt und wir graͤmen uns
nicht ſo ſehr daruͤber, uͤberall ſind wir mehr gleich¬
guͤltig gegen Kunſt und Poeſie geworden, in dem
Verſtand, worin beide bisher gepflegt, auch Das
nenne ich ein gutes Zeichen, auch dieſes, daß die
ſogenannte Proſa, die ungebundene Rede wirklich
ungebundener und poetiſcher zu ſtroͤmen anfaͤngt,
als bisher, wo die Proſa eben den von den Stri¬
cken der Philiſter gebundenen Simſon vorſtellte
und die ſogenannte gebundene Rede, die Poeſie,
ſchrankenlos umherſchwaͤrmte.
Unſere Dichter ſind proſaiſcher geworden, un¬
ſere Proſaiker aber poetiſcher, und das iſt ein be¬
deutſamer Wechſel, ein Wechſel, der zu den er¬
freulichen Zeichen und Erſcheinungen der Zeit ge¬
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/148>, abgerufen am 24.11.2024.
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