nichts, als daß man entweder als Indier, oder als Grieche, oder als Christ die Welt und ihre Erscheinungen auffaßt. So geschieht es allerdings oft, daß dem christlichen Auge mißfällig und un¬ schön vorkommt, was dem griechischen schön und gefällig, was Beiden vielleicht übereinstimmend schön, dem indischen Auge als das grade Gegen¬ theil, oder umgekehrt, daß, was den Indier ent¬ zückt, dem Griechen und Christen ein Abscheu und Gräuel ist.
Alle diese verschiedenen Geschmacksurtheile sind keineswegs willkührlich und zufällig, nicht etwa nur aus augenblicklicher Laune gefällt, oder aus individueller Mißbildung der Organe hervorgegan¬ gen; sondern man muß sie betrachten als direkte, gesetzmäßige Ausflüsse aus der Grundquelle ästhe¬ tischer Urtheile, als volksthümliche Formen, die nach dem Urtypus der jedesmaligen Weltanschau¬ ung ausgeprägt sind.
Solche Gesetze und Formen mußte die Aest¬ hetik, wie schon bemerkt, nach dem wissenschaftli¬ chen Bedürfnisse unserer Zeit, in möglichster Voll¬ ständigkeit enthalten und dies ist eine Aufgabe, welche die Reflexion des Aesthetikers ohne Schwie¬ rigkeit zur Lösung bringen kann, sobald sein Leben in eine Zeit fällt, der eine eigenthümliche, Alles durchdringende Weltanschauung zu Theil gewor¬
Wienbarg, ästhet. Feldz. 9
nichts, als daß man entweder als Indier, oder als Grieche, oder als Chriſt die Welt und ihre Erſcheinungen auffaßt. So geſchieht es allerdings oft, daß dem chriſtlichen Auge mißfaͤllig und un¬ ſchoͤn vorkommt, was dem griechiſchen ſchoͤn und gefaͤllig, was Beiden vielleicht uͤbereinſtimmend ſchoͤn, dem indiſchen Auge als das grade Gegen¬ theil, oder umgekehrt, daß, was den Indier ent¬ zuͤckt, dem Griechen und Chriſten ein Abſcheu und Graͤuel iſt.
Alle dieſe verſchiedenen Geſchmacksurtheile ſind keineswegs willkuͤhrlich und zufaͤllig, nicht etwa nur aus augenblicklicher Laune gefaͤllt, oder aus individueller Mißbildung der Organe hervorgegan¬ gen; ſondern man muß ſie betrachten als direkte, geſetzmaͤßige Ausfluͤſſe aus der Grundquelle aͤſthe¬ tiſcher Urtheile, als volksthuͤmliche Formen, die nach dem Urtypus der jedesmaligen Weltanſchau¬ ung ausgepraͤgt ſind.
Solche Geſetze und Formen mußte die Aeſt¬ hetik, wie ſchon bemerkt, nach dem wiſſenſchaftli¬ chen Beduͤrfniſſe unſerer Zeit, in moͤglichſter Voll¬ ſtaͤndigkeit enthalten und dies iſt eine Aufgabe, welche die Reflexion des Aeſthetikers ohne Schwie¬ rigkeit zur Loͤſung bringen kann, ſobald ſein Leben in eine Zeit faͤllt, der eine eigenthuͤmliche, Alles durchdringende Weltanſchauung zu Theil gewor¬
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 9
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nichts, als daß man entweder als Indier, oder
als Grieche, oder als Chriſt die Welt und ihre
Erſcheinungen auffaßt. So geſchieht es allerdings
oft, daß dem chriſtlichen Auge mißfaͤllig und un¬
ſchoͤn vorkommt, was dem griechiſchen ſchoͤn und
gefaͤllig, was Beiden vielleicht uͤbereinſtimmend
ſchoͤn, dem indiſchen Auge als das grade Gegen¬
theil, oder umgekehrt, daß, was den Indier ent¬
zuͤckt, dem Griechen und Chriſten ein Abſcheu und
Graͤuel iſt.
Alle dieſe verſchiedenen Geſchmacksurtheile ſind
keineswegs willkuͤhrlich und zufaͤllig, nicht etwa
nur aus augenblicklicher Laune gefaͤllt, oder aus
individueller Mißbildung der Organe hervorgegan¬
gen; ſondern man muß ſie betrachten als direkte,
geſetzmaͤßige Ausfluͤſſe aus der Grundquelle aͤſthe¬
tiſcher Urtheile, als volksthuͤmliche Formen, die
nach dem Urtypus der jedesmaligen Weltanſchau¬
ung ausgepraͤgt ſind.
Solche Geſetze und Formen mußte die Aeſt¬
hetik, wie ſchon bemerkt, nach dem wiſſenſchaftli¬
chen Beduͤrfniſſe unſerer Zeit, in moͤglichſter Voll¬
ſtaͤndigkeit enthalten und dies iſt eine Aufgabe,
welche die Reflexion des Aeſthetikers ohne Schwie¬
rigkeit zur Loͤſung bringen kann, ſobald ſein Leben
in eine Zeit faͤllt, der eine eigenthuͤmliche, Alles
durchdringende Weltanſchauung zu Theil gewor¬
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 9
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/143>, abgerufen am 16.07.2024.
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