Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.27. Schon ist der bäume schmuk der spätern jahrszeit raub,Schon klappert zwischen dürrem laub Der rauhe wind, und graue nebel hüllen Der Sonne kraftberaubtes licht, Vermischen luft und meer, und ungestümer brüllen Die wellen am gestad, das kaum ihr wüten bricht; Oft, wenn sie grimmbeschäumt den harten fesseln zürnen, Sprizt der zerstäubte strom bis an der felsen stirnen. 28. Die noth treibt unser paar aus ihrer stillen buchtNun höher ins gebürg. Doch, wo sie hin sich wenden, Umringet sie von allen enden Des dürren hungers bild, und sperret ihre flucht. Ein umstand kommt dazu, der sie mit süßen schmerzen Und banger lust in diesem jammerstand Bald ängstigt, bald entzükt -- Amanda trägt das pfand Von Hüons Liebe schon drey monden unterm herzen. 29. Oft, wenn sie vor ihm steht, drükt sie des Gatten handStillschweigend an die brust, und lächelnd füllen thränen Ihr ernstes aug'. Ein neues zartres band Webt zwischen ihnen sich. Sie fühlt ein stilles sehnen, Voll neuer ahnungen, den mutterbusen dehnen; Was innigers, als was sie je empfand, Ein dunkles vorgefühl der mütterlichen triebe, Durchglüht, durchschaudert sie, und heiligt ihre liebe. 30. Das
27. Schon iſt der baͤume ſchmuk der ſpaͤtern jahrszeit raub,Schon klappert zwiſchen duͤrrem laub Der rauhe wind, und graue nebel huͤllen Der Sonne kraftberaubtes licht, Vermiſchen luft und meer, und ungeſtuͤmer bruͤllen Die wellen am geſtad, das kaum ihr wuͤten bricht; Oft, wenn ſie grimmbeſchaͤumt den harten feſſeln zuͤrnen, Sprizt der zerſtaͤubte ſtrom bis an der felſen ſtirnen. 28. Die noth treibt unſer paar aus ihrer ſtillen buchtNun hoͤher ins gebuͤrg. Doch, wo ſie hin ſich wenden, Umringet ſie von allen enden Des duͤrren hungers bild, und ſperret ihre flucht. Ein umſtand kommt dazu, der ſie mit ſuͤßen ſchmerzen Und banger luſt in dieſem jammerſtand Bald aͤngſtigt, bald entzuͤkt — Amanda traͤgt das pfand Von Huͤons Liebe ſchon drey monden unterm herzen. 29. Oft, wenn ſie vor ihm ſteht, druͤkt ſie des Gatten handStillſchweigend an die bruſt, und laͤchelnd fuͤllen thraͤnen Ihr ernſtes aug'. Ein neues zartres band Webt zwiſchen ihnen ſich. Sie fuͤhlt ein ſtilles ſehnen, Voll neuer ahnungen, den mutterbuſen dehnen; Was innigers, als was ſie je empfand, Ein dunkles vorgefuͤhl der muͤtterlichen triebe, Durchgluͤht, durchſchaudert ſie, und heiligt ihre liebe. 30. Das
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27.
Schon iſt der baͤume ſchmuk der ſpaͤtern jahrszeit raub,
Schon klappert zwiſchen duͤrrem laub
Der rauhe wind, und graue nebel huͤllen
Der Sonne kraftberaubtes licht,
Vermiſchen luft und meer, und ungeſtuͤmer bruͤllen
Die wellen am geſtad, das kaum ihr wuͤten bricht;
Oft, wenn ſie grimmbeſchaͤumt den harten feſſeln zuͤrnen,
Sprizt der zerſtaͤubte ſtrom bis an der felſen ſtirnen.
28.
Die noth treibt unſer paar aus ihrer ſtillen bucht
Nun hoͤher ins gebuͤrg. Doch, wo ſie hin ſich wenden,
Umringet ſie von allen enden
Des duͤrren hungers bild, und ſperret ihre flucht.
Ein umſtand kommt dazu, der ſie mit ſuͤßen ſchmerzen
Und banger luſt in dieſem jammerſtand
Bald aͤngſtigt, bald entzuͤkt — Amanda traͤgt das pfand
Von Huͤons Liebe ſchon drey monden unterm herzen.
29.
Oft, wenn ſie vor ihm ſteht, druͤkt ſie des Gatten hand
Stillſchweigend an die bruſt, und laͤchelnd fuͤllen thraͤnen
Ihr ernſtes aug'. Ein neues zartres band
Webt zwiſchen ihnen ſich. Sie fuͤhlt ein ſtilles ſehnen,
Voll neuer ahnungen, den mutterbuſen dehnen;
Was innigers, als was ſie je empfand,
Ein dunkles vorgefuͤhl der muͤtterlichen triebe,
Durchgluͤht, durchſchaudert ſie, und heiligt ihre liebe.
30. Das
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