Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.45. Da hätten wir die frucht von deinem kalten baden,Fuhr Gangolf fröhlich fort. Sag an! es könnte dir, Wenn du's verhielt'st, und dem Verborgnen schaden! O! spricht sie, sähest du den schönen birnbaum hier, So frisch von laub, so strotzend voll beladen Mit reifer goldner frucht! die äste brechen schier! Ich sagte nichts, aus furcht du möchtest zürnen, Allein -- ich gäb' ein aug' um eine dieser birnen! 46. Ich kenn ihn wohl den baum; er trägt im ganzen landDie beste frucht, versezt der gute Blinde; Doch, sprich, wie machen wirs? Kein mensch ist bey der hand, Es ist ein erndtetag, das ganze hofgesinde Im feld zerstreut -- der baum ist hoch, und ich Bin schwach und blind -- O wäre nur der bengel Der Walter hier! -- "Mir fällt was ein, mein engel, Wir brauchen niemand sonst, spricht sie, als dich und mich. 47. Wärst du so gut, und wolltest mit dem rückenNur einen augenblik fest an den stamm dich drücken, So wär's ein leichtes mir, hier von des Rasens saum Dir auf die schulter mich zu schwingen; Von da ists vollends auf den baum Zum ersten ast zwoo kleine spangen kaum; Ich bin im klettern und im springen Von kindheit an geübt -- gewiß, es wird gelingen. 48. Von
45. Da haͤtten wir die frucht von deinem kalten baden,Fuhr Gangolf froͤhlich fort. Sag an! es koͤnnte dir, Wenn du's verhielt'ſt, und dem Verborgnen ſchaden! O! ſpricht ſie, ſaͤheſt du den ſchoͤnen birnbaum hier, So friſch von laub, ſo ſtrotzend voll beladen Mit reifer goldner frucht! die aͤſte brechen ſchier! Ich ſagte nichts, aus furcht du moͤchteſt zuͤrnen, Allein — ich gaͤb' ein aug' um eine dieſer birnen! 46. Ich kenn ihn wohl den baum; er traͤgt im ganzen landDie beſte frucht, verſezt der gute Blinde; Doch, ſprich, wie machen wirs? Kein menſch iſt bey der hand, Es iſt ein erndtetag, das ganze hofgeſinde Im feld zerſtreut — der baum iſt hoch, und ich Bin ſchwach und blind — O waͤre nur der bengel Der Walter hier! — „Mir faͤllt was ein, mein engel, Wir brauchen niemand ſonſt, ſpricht ſie, als dich und mich. 47. Waͤrſt du ſo gut, und wollteſt mit dem ruͤckenNur einen augenblik feſt an den ſtamm dich druͤcken, So waͤr's ein leichtes mir, hier von des Raſens ſaum Dir auf die ſchulter mich zu ſchwingen; Von da iſts vollends auf den baum Zum erſten aſt zwoo kleine ſpangen kaum; Ich bin im klettern und im ſpringen Von kindheit an geuͤbt — gewiß, es wird gelingen. 48. Von
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45.
Da haͤtten wir die frucht von deinem kalten baden,
Fuhr Gangolf froͤhlich fort. Sag an! es koͤnnte dir,
Wenn du's verhielt'ſt, und dem Verborgnen ſchaden!
O! ſpricht ſie, ſaͤheſt du den ſchoͤnen birnbaum hier,
So friſch von laub, ſo ſtrotzend voll beladen
Mit reifer goldner frucht! die aͤſte brechen ſchier!
Ich ſagte nichts, aus furcht du moͤchteſt zuͤrnen,
Allein — ich gaͤb' ein aug' um eine dieſer birnen!
46.
Ich kenn ihn wohl den baum; er traͤgt im ganzen land
Die beſte frucht, verſezt der gute Blinde;
Doch, ſprich, wie machen wirs? Kein menſch iſt bey der hand,
Es iſt ein erndtetag, das ganze hofgeſinde
Im feld zerſtreut — der baum iſt hoch, und ich
Bin ſchwach und blind — O waͤre nur der bengel
Der Walter hier! — „Mir faͤllt was ein, mein engel,
Wir brauchen niemand ſonſt, ſpricht ſie, als dich und mich.
47.
Waͤrſt du ſo gut, und wollteſt mit dem ruͤcken
Nur einen augenblik feſt an den ſtamm dich druͤcken,
So waͤr's ein leichtes mir, hier von des Raſens ſaum
Dir auf die ſchulter mich zu ſchwingen;
Von da iſts vollends auf den baum
Zum erſten aſt zwoo kleine ſpangen kaum;
Ich bin im klettern und im ſpringen
Von kindheit an geuͤbt — gewiß, es wird gelingen.
48. Von
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Zitationshilfe: | Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/154>, abgerufen am 16.02.2025. |