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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
heit dieser hochfliegenden Begeisterung Beyfall zu geben;
da es ihm, seitdem er sie in den Armen der schönen
Danae verlohren hatte, unmöglich geblieben war, sich
wieder in sie hineinzusezen; und da selbst das lebhaftere
Gefühl für die Tugend, wovon sein Herz wieder erhizt
war, weder seinen sittlichen Jdeen diesen Firniß, den
sie ehemals hatten, wiedergeben, noch die dichterische
Metaphysik der Orphischen Secte wieder in die vorige
Achtung bey ihm sezen konnte. Er glaubte durch die
Erfahrung überwiesen zu seyn, daß dieses innerliche Ge-
fühl, durch dessen Zeugniß er die Schlüsse des Sophi-
sten zu entkräften vermeynt hatte, nur ein sehr zwey-
deutiges Kennzeichen der Wahrheit sey; daß Hippias
eben soviel Recht habe, seinen thierischen Materialismus
und seine verderbliche Moral, als die Theosophen ihre
geheimnißvolle Geister-Lehre durch die Stimme inner-
licher Gefühle und Erfahrungen zu autorisiren; und
daß es vermuthlich allein dem verschiednen Schwung
unsrer Einbildungs-Kraft beyzumessen sey, wenn wir
uns zu einer Zeit geneigter fühlen, uns mit den Göttern,
zu einer andern mit den Thieren verwandt zu glauben;
wenn uns zu einer Zeit alles sich in einem erusthaften,
und schwärzlichten, zu einer andern alles in einem fröh-
lichen Lichte darstellt; wenn wir izt kein wahres und
gründliches Vergnügen kennen, als uns mit stolzer Ver-
schmähung der irdischen Dinge in melancholische Betrach-
tungen ihres Nichts, in die unbekannten Gegenden jen-
seits des Grabes, und die grundlosen Tieffen der Ewig-

keit

Agathon.
heit dieſer hochfliegenden Begeiſterung Beyfall zu geben;
da es ihm, ſeitdem er ſie in den Armen der ſchoͤnen
Danae verlohren hatte, unmoͤglich geblieben war, ſich
wieder in ſie hineinzuſezen; und da ſelbſt das lebhaftere
Gefuͤhl fuͤr die Tugend, wovon ſein Herz wieder erhizt
war, weder ſeinen ſittlichen Jdeen dieſen Firniß, den
ſie ehemals hatten, wiedergeben, noch die dichteriſche
Metaphyſik der Orphiſchen Secte wieder in die vorige
Achtung bey ihm ſezen konnte. Er glaubte durch die
Erfahrung uͤberwieſen zu ſeyn, daß dieſes innerliche Ge-
fuͤhl, durch deſſen Zeugniß er die Schluͤſſe des Sophi-
ſten zu entkraͤften vermeynt hatte, nur ein ſehr zwey-
deutiges Kennzeichen der Wahrheit ſey; daß Hippias
eben ſoviel Recht habe, ſeinen thieriſchen Materialiſmus
und ſeine verderbliche Moral, als die Theoſophen ihre
geheimnißvolle Geiſter-Lehre durch die Stimme inner-
licher Gefuͤhle und Erfahrungen zu autoriſiren; und
daß es vermuthlich allein dem verſchiednen Schwung
unſrer Einbildungs-Kraft beyzumeſſen ſey, wenn wir
uns zu einer Zeit geneigter fuͤhlen, uns mit den Goͤttern,
zu einer andern mit den Thieren verwandt zu glauben;
wenn uns zu einer Zeit alles ſich in einem eruſthaften,
und ſchwaͤrzlichten, zu einer andern alles in einem froͤh-
lichen Lichte darſtellt; wenn wir izt kein wahres und
gruͤndliches Vergnuͤgen kennen, als uns mit ſtolzer Ver-
ſchmaͤhung der irdiſchen Dinge in melancholiſche Betrach-
tungen ihres Nichts, in die unbekannten Gegenden jen-
ſeits des Grabes, und die grundloſen Tieffen der Ewig-

keit
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[62/0064] Agathon. heit dieſer hochfliegenden Begeiſterung Beyfall zu geben; da es ihm, ſeitdem er ſie in den Armen der ſchoͤnen Danae verlohren hatte, unmoͤglich geblieben war, ſich wieder in ſie hineinzuſezen; und da ſelbſt das lebhaftere Gefuͤhl fuͤr die Tugend, wovon ſein Herz wieder erhizt war, weder ſeinen ſittlichen Jdeen dieſen Firniß, den ſie ehemals hatten, wiedergeben, noch die dichteriſche Metaphyſik der Orphiſchen Secte wieder in die vorige Achtung bey ihm ſezen konnte. Er glaubte durch die Erfahrung uͤberwieſen zu ſeyn, daß dieſes innerliche Ge- fuͤhl, durch deſſen Zeugniß er die Schluͤſſe des Sophi- ſten zu entkraͤften vermeynt hatte, nur ein ſehr zwey- deutiges Kennzeichen der Wahrheit ſey; daß Hippias eben ſoviel Recht habe, ſeinen thieriſchen Materialiſmus und ſeine verderbliche Moral, als die Theoſophen ihre geheimnißvolle Geiſter-Lehre durch die Stimme inner- licher Gefuͤhle und Erfahrungen zu autoriſiren; und daß es vermuthlich allein dem verſchiednen Schwung unſrer Einbildungs-Kraft beyzumeſſen ſey, wenn wir uns zu einer Zeit geneigter fuͤhlen, uns mit den Goͤttern, zu einer andern mit den Thieren verwandt zu glauben; wenn uns zu einer Zeit alles ſich in einem eruſthaften, und ſchwaͤrzlichten, zu einer andern alles in einem froͤh- lichen Lichte darſtellt; wenn wir izt kein wahres und gruͤndliches Vergnuͤgen kennen, als uns mit ſtolzer Ver- ſchmaͤhung der irdiſchen Dinge in melancholiſche Betrach- tungen ihres Nichts, in die unbekannten Gegenden jen- ſeits des Grabes, und die grundloſen Tieffen der Ewig- keit

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/64>, abgerufen am 29.03.2024.