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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Eilftes Buch, viertes Capitel.
wie man sich vielleicht noch erinnern wird, von einer
edlern Art, und so nahe mit der Liebe der Tugend
selbst verwandt, daß wir Ursache haben, zu vermuthen,
daß in der gänzlichen Abgeschiedenheit, worinn unsre
Heldin lebte, jene sich endlich gänzlich in dieser verloh-
ren haben würde. Allein eben darum, weil ihre Liebe
zur Tugend aufrichtig war, machte sie sich ein gerech-
tes Bedenken, bey dem Bewustfeyn der unfreywilligen
Schwachheit ihres Herzens für den allzuliebenswürdigen
Agathon, sich der Gefahr auszusezen, durch eine nur
allzumögliche Wiederkehr seiner ehmaligen Empfindun-
gen mit dahin gerissen zu werden; ein Gedanke, der
ohne eine übertriebne Meynung von ihren Reizungen
zu haben, in ihr entstehen konnte, und durch das Miß-
trauen in sich selbst, womit die wahre Tugend allezeit
begleitet ist, kein geringes Gewicht erhalten mußte.
Solchergestalt kämpften Liebe, Stolz und Tugend für
und wider das Verlangen, den Agathon zu sehen, in
ihrem unschlüssigen Herzen -- mit welchem Erfolg läßt
sich leicht errathen. Die Liebe müßte nicht Liebe seyn,
wenn sie nicht Mittel fände, den Stolz und die Tugend
selbst endlich auf ihre Seite zu bringen. Sie flößte
jenem die Begierde ein, zu sehen wie sich Agathon hal-
ten würde, wenn er so plözlich und unerwartet der einst
so sehr geliebten, und so grausam beleidigten Danae un-
ter die Augen käme; und munterte diese auf, sich selbst
Stärke genug zu zutrauen, von den Entzükungen, in
welche er vielleicht bey diesem Anblik gerathen möchte,
nicht zu sehr gerührt zu werden. Kurz; der Erfolg die-

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Eilftes Buch, viertes Capitel.
wie man ſich vielleicht noch erinnern wird, von einer
edlern Art, und ſo nahe mit der Liebe der Tugend
ſelbſt verwandt, daß wir Urſache haben, zu vermuthen,
daß in der gaͤnzlichen Abgeſchiedenheit, worinn unſre
Heldin lebte, jene ſich endlich gaͤnzlich in dieſer verloh-
ren haben wuͤrde. Allein eben darum, weil ihre Liebe
zur Tugend aufrichtig war, machte ſie ſich ein gerech-
tes Bedenken, bey dem Bewuſtfeyn der unfreywilligen
Schwachheit ihres Herzens fuͤr den allzuliebenswuͤrdigen
Agathon, ſich der Gefahr auszuſezen, durch eine nur
allzumoͤgliche Wiederkehr ſeiner ehmaligen Empfindun-
gen mit dahin geriſſen zu werden; ein Gedanke, der
ohne eine uͤbertriebne Meynung von ihren Reizungen
zu haben, in ihr entſtehen konnte, und durch das Miß-
trauen in ſich ſelbſt, womit die wahre Tugend allezeit
begleitet iſt, kein geringes Gewicht erhalten mußte.
Solchergeſtalt kaͤmpften Liebe, Stolz und Tugend fuͤr
und wider das Verlangen, den Agathon zu ſehen, in
ihrem unſchluͤſſigen Herzen ‒‒ mit welchem Erfolg laͤßt
ſich leicht errathen. Die Liebe muͤßte nicht Liebe ſeyn,
wenn ſie nicht Mittel faͤnde, den Stolz und die Tugend
ſelbſt endlich auf ihre Seite zu bringen. Sie floͤßte
jenem die Begierde ein, zu ſehen wie ſich Agathon hal-
ten wuͤrde, wenn er ſo ploͤzlich und unerwartet der einſt
ſo ſehr geliebten, und ſo grauſam beleidigten Danae un-
ter die Augen kaͤme; und munterte dieſe auf, ſich ſelbſt
Staͤrke genug zu zutrauen, von den Entzuͤkungen, in
welche er vielleicht bey dieſem Anblik gerathen moͤchte,
nicht zu ſehr geruͤhrt zu werden. Kurz; der Erfolg die-

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[339/0341] Eilftes Buch, viertes Capitel. wie man ſich vielleicht noch erinnern wird, von einer edlern Art, und ſo nahe mit der Liebe der Tugend ſelbſt verwandt, daß wir Urſache haben, zu vermuthen, daß in der gaͤnzlichen Abgeſchiedenheit, worinn unſre Heldin lebte, jene ſich endlich gaͤnzlich in dieſer verloh- ren haben wuͤrde. Allein eben darum, weil ihre Liebe zur Tugend aufrichtig war, machte ſie ſich ein gerech- tes Bedenken, bey dem Bewuſtfeyn der unfreywilligen Schwachheit ihres Herzens fuͤr den allzuliebenswuͤrdigen Agathon, ſich der Gefahr auszuſezen, durch eine nur allzumoͤgliche Wiederkehr ſeiner ehmaligen Empfindun- gen mit dahin geriſſen zu werden; ein Gedanke, der ohne eine uͤbertriebne Meynung von ihren Reizungen zu haben, in ihr entſtehen konnte, und durch das Miß- trauen in ſich ſelbſt, womit die wahre Tugend allezeit begleitet iſt, kein geringes Gewicht erhalten mußte. Solchergeſtalt kaͤmpften Liebe, Stolz und Tugend fuͤr und wider das Verlangen, den Agathon zu ſehen, in ihrem unſchluͤſſigen Herzen ‒‒ mit welchem Erfolg laͤßt ſich leicht errathen. Die Liebe muͤßte nicht Liebe ſeyn, wenn ſie nicht Mittel faͤnde, den Stolz und die Tugend ſelbſt endlich auf ihre Seite zu bringen. Sie floͤßte jenem die Begierde ein, zu ſehen wie ſich Agathon hal- ten wuͤrde, wenn er ſo ploͤzlich und unerwartet der einſt ſo ſehr geliebten, und ſo grauſam beleidigten Danae un- ter die Augen kaͤme; und munterte dieſe auf, ſich ſelbſt Staͤrke genug zu zutrauen, von den Entzuͤkungen, in welche er vielleicht bey dieſem Anblik gerathen moͤchte, nicht zu ſehr geruͤhrt zu werden. Kurz; der Erfolg die- ſes Y 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/341>, abgerufen am 23.11.2024.