Gebieterin sich wol eines bessern besinnen würde, und -- die schöne Danae blieb alleiu.
Eine Erzählung alles dessen, was in ihrem Gemüthe vorgieng, würde etliche Bogen ausfüllen, ob es gleich weniger Zeit als sechs Minuten einnahm. -- Was für ein Streit! Was für ein Getümmel von widerwärti- gen Bewegungen! Sie hatte ihn bis auf diesen Augen- blik so zärtlich geliebt -- und glaubte izt zu fühlen, daß sie ihn hasse -- Sie fürchtete sich vor seinem Anblik -- und konnte ihn kaum erwarten. Was hätte sie vor einer Stunde gegeben, diesen Agathon zu sehen, der, auch undankbar, auch ungetreu, über ihre ganze Seele herrschte; dessen Verlust ihr alle Vorzüge ihres ehmali- gen Zustandes, den Aufenthalt zu Smyrna, ihre Freunde, ihre Reichthümer, unerträglich gemacht hatte -- dessen Bild, mit allen den zauberischen Erinnerungen ihrer ehmaligen Glükseligkeit, das einzige Gut, das einzige Vergnügen war, welches sie noch zu empfinden fähig war. Aber nun da sie wußte, daß es in ihrer Gewalt war, ihn wieder zu sehen, wachte auf einmal ihr ganzer Stolz auf, und schien etliche Augenblike sich nicht entschliessen zu können ihm zu vergeben Und wenn auch einen Augenblik darauf die Liebe wieder die Ober- hand erhielt; so stürzte sie die Furcht, ihn unempfind- lich zu finden, sogleich wieder in die vorige Verlegen- heit. Zu allem diesem kam noch eine andre Betrach- tung, welche vielleicht bey der schönen Danae allzuspiz- fündig scheinen könnte, wenn wir nicht zu ihrer Recht- fertigung sagen müßten, daß die Flucht unsers Helden,
die
[Agath. II. Th.] Y
Eilftes Buch, viertes Capitel.
Gebieterin ſich wol eines beſſern beſinnen wuͤrde, und ‒‒ die ſchoͤne Danae blieb alleiu.
Eine Erzaͤhlung alles deſſen, was in ihrem Gemuͤthe vorgieng, wuͤrde etliche Bogen ausfuͤllen, ob es gleich weniger Zeit als ſechs Minuten einnahm. ‒‒ Was fuͤr ein Streit! Was fuͤr ein Getuͤmmel von widerwaͤrti- gen Bewegungen! Sie hatte ihn bis auf dieſen Augen- blik ſo zaͤrtlich geliebt ‒‒ und glaubte izt zu fuͤhlen, daß ſie ihn haſſe ‒‒ Sie fuͤrchtete ſich vor ſeinem Anblik ‒‒ und konnte ihn kaum erwarten. Was haͤtte ſie vor einer Stunde gegeben, dieſen Agathon zu ſehen, der, auch undankbar, auch ungetreu, uͤber ihre ganze Seele herrſchte; deſſen Verluſt ihr alle Vorzuͤge ihres ehmali- gen Zuſtandes, den Aufenthalt zu Smyrna, ihre Freunde, ihre Reichthuͤmer, unertraͤglich gemacht hatte ‒‒ deſſen Bild, mit allen den zauberiſchen Erinnerungen ihrer ehmaligen Gluͤkſeligkeit, das einzige Gut, das einzige Vergnuͤgen war, welches ſie noch zu empfinden faͤhig war. Aber nun da ſie wußte, daß es in ihrer Gewalt war, ihn wieder zu ſehen, wachte auf einmal ihr ganzer Stolz auf, und ſchien etliche Augenblike ſich nicht entſchlieſſen zu koͤnnen ihm zu vergeben Und wenn auch einen Augenblik darauf die Liebe wieder die Ober- hand erhielt; ſo ſtuͤrzte ſie die Furcht, ihn unempfind- lich zu finden, ſogleich wieder in die vorige Verlegen- heit. Zu allem dieſem kam noch eine andre Betrach- tung, welche vielleicht bey der ſchoͤnen Danae allzuſpiz- fuͤndig ſcheinen koͤnnte, wenn wir nicht zu ihrer Recht- fertigung ſagen muͤßten, daß die Flucht unſers Helden,
die
[Agath. II. Th.] Y
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Eilftes Buch, viertes Capitel.
Gebieterin ſich wol eines beſſern beſinnen wuͤrde, und ‒‒
die ſchoͤne Danae blieb alleiu.
Eine Erzaͤhlung alles deſſen, was in ihrem Gemuͤthe
vorgieng, wuͤrde etliche Bogen ausfuͤllen, ob es gleich
weniger Zeit als ſechs Minuten einnahm. ‒‒ Was fuͤr
ein Streit! Was fuͤr ein Getuͤmmel von widerwaͤrti-
gen Bewegungen! Sie hatte ihn bis auf dieſen Augen-
blik ſo zaͤrtlich geliebt ‒‒ und glaubte izt zu fuͤhlen, daß
ſie ihn haſſe ‒‒ Sie fuͤrchtete ſich vor ſeinem Anblik ‒‒
und konnte ihn kaum erwarten. Was haͤtte ſie vor einer
Stunde gegeben, dieſen Agathon zu ſehen, der, auch
undankbar, auch ungetreu, uͤber ihre ganze Seele
herrſchte; deſſen Verluſt ihr alle Vorzuͤge ihres ehmali-
gen Zuſtandes, den Aufenthalt zu Smyrna, ihre
Freunde, ihre Reichthuͤmer, unertraͤglich gemacht hatte ‒‒
deſſen Bild, mit allen den zauberiſchen Erinnerungen
ihrer ehmaligen Gluͤkſeligkeit, das einzige Gut, das
einzige Vergnuͤgen war, welches ſie noch zu empfinden
faͤhig war. Aber nun da ſie wußte, daß es in ihrer
Gewalt war, ihn wieder zu ſehen, wachte auf einmal
ihr ganzer Stolz auf, und ſchien etliche Augenblike ſich
nicht entſchlieſſen zu koͤnnen ihm zu vergeben Und wenn
auch einen Augenblik darauf die Liebe wieder die Ober-
hand erhielt; ſo ſtuͤrzte ſie die Furcht, ihn unempfind-
lich zu finden, ſogleich wieder in die vorige Verlegen-
heit. Zu allem dieſem kam noch eine andre Betrach-
tung, welche vielleicht bey der ſchoͤnen Danae allzuſpiz-
fuͤndig ſcheinen koͤnnte, wenn wir nicht zu ihrer Recht-
fertigung ſagen muͤßten, daß die Flucht unſers Helden,
die
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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/339>, abgerufen am 16.07.2024.
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