Das Gynäceum war, wie man weiß, bey den Grie- chen den Fremden, welche in einem Hause aufgenom- men wurden, ordentlicher Weise, eben so unzugangbar als der Harem bey den Morgenländern. Aber Agathon wurde in dem Hause des Archytas nicht wie ein Frem- der behandelt. Dieser liebenswürdige Alte führte ihn also, nachdem sie sich ein paar Stunden, welche un- serm Helden sehr kurz wurden, mit einander bespro- chen hatten, in Begleitung seiner beyden Söhne in das Jnnerste des Hauses, welches von dem weiblichen Theil der Familie bewohnt wurde; um, wie er sagte, seinen Töchtern ein Vergnügen, worauf sie sich schon so lange gefreuet hätten, nicht länger vorzuenthalten. Stellet euch vor, was für eine süsse Bestürzung ihn befiel, da die erste Person, die ihm beym Eintritt in die Augen fiel, seine Psyche war! -- Augenblike von dieser Art lassen sich besser mahlen, als beschreiben -- diese Er- scheinung war so unerwartet, daß sein erster Gedanke war, sich durch eine zufällige Aehnlichkeit dieser jungen Dame mit seiner geliebten Psyche betrogen zu glauben. Er stuzte; er betrachtete sie von neuem; und wenn er nunmehr auch seinen Augen nicht hätte trauen wollen, so ließ ihm das, was in seinem Herzen vorgieng, keinen Zweifel übrig. Und doch kam es ihm so wenig glaub- lich vor, daß er glüklich genug seyn sollte, nach einer so langen Abwesenheit und bey so wenigem Anschein, sie jemals wieder zu sehen, sie in dem Gynäceo seiner Freunde zu Tarent wieder zu finden! Ein andrer Gedanke, der in diesen Umständen sehr natürlich war, vermehrte
seine
Agathon.
Das Gynaͤceum war, wie man weiß, bey den Grie- chen den Fremden, welche in einem Hauſe aufgenom- men wurden, ordentlicher Weiſe, eben ſo unzugangbar als der Harem bey den Morgenlaͤndern. Aber Agathon wurde in dem Hauſe des Archytas nicht wie ein Frem- der behandelt. Dieſer liebenswuͤrdige Alte fuͤhrte ihn alſo, nachdem ſie ſich ein paar Stunden, welche un- ſerm Helden ſehr kurz wurden, mit einander beſpro- chen hatten, in Begleitung ſeiner beyden Soͤhne in das Jnnerſte des Hauſes, welches von dem weiblichen Theil der Familie bewohnt wurde; um, wie er ſagte, ſeinen Toͤchtern ein Vergnuͤgen, worauf ſie ſich ſchon ſo lange gefreuet haͤtten, nicht laͤnger vorzuenthalten. Stellet euch vor, was fuͤr eine ſuͤſſe Beſtuͤrzung ihn befiel, da die erſte Perſon, die ihm beym Eintritt in die Augen fiel, ſeine Pſyche war! ‒‒ Augenblike von dieſer Art laſſen ſich beſſer mahlen, als beſchreiben ‒‒ dieſe Er- ſcheinung war ſo unerwartet, daß ſein erſter Gedanke war, ſich durch eine zufaͤllige Aehnlichkeit dieſer jungen Dame mit ſeiner geliebten Pſyche betrogen zu glauben. Er ſtuzte; er betrachtete ſie von neuem; und wenn er nunmehr auch ſeinen Augen nicht haͤtte trauen wollen, ſo ließ ihm das, was in ſeinem Herzen vorgieng, keinen Zweifel uͤbrig. Und doch kam es ihm ſo wenig glaub- lich vor, daß er gluͤklich genug ſeyn ſollte, nach einer ſo langen Abweſenheit und bey ſo wenigem Anſchein, ſie jemals wieder zu ſehen, ſie in dem Gynaͤceo ſeiner Freunde zu Tarent wieder zu finden! Ein andrer Gedanke, der in dieſen Umſtaͤnden ſehr natuͤrlich war, vermehrte
ſeine
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Agathon.
Das Gynaͤceum war, wie man weiß, bey den Grie-
chen den Fremden, welche in einem Hauſe aufgenom-
men wurden, ordentlicher Weiſe, eben ſo unzugangbar
als der Harem bey den Morgenlaͤndern. Aber Agathon
wurde in dem Hauſe des Archytas nicht wie ein Frem-
der behandelt. Dieſer liebenswuͤrdige Alte fuͤhrte ihn
alſo, nachdem ſie ſich ein paar Stunden, welche un-
ſerm Helden ſehr kurz wurden, mit einander beſpro-
chen hatten, in Begleitung ſeiner beyden Soͤhne in das
Jnnerſte des Hauſes, welches von dem weiblichen Theil
der Familie bewohnt wurde; um, wie er ſagte, ſeinen
Toͤchtern ein Vergnuͤgen, worauf ſie ſich ſchon ſo lange
gefreuet haͤtten, nicht laͤnger vorzuenthalten. Stellet
euch vor, was fuͤr eine ſuͤſſe Beſtuͤrzung ihn befiel, da
die erſte Perſon, die ihm beym Eintritt in die Augen
fiel, ſeine Pſyche war! ‒‒ Augenblike von dieſer Art
laſſen ſich beſſer mahlen, als beſchreiben ‒‒ dieſe Er-
ſcheinung war ſo unerwartet, daß ſein erſter Gedanke
war, ſich durch eine zufaͤllige Aehnlichkeit dieſer jungen
Dame mit ſeiner geliebten Pſyche betrogen zu glauben.
Er ſtuzte; er betrachtete ſie von neuem; und wenn er
nunmehr auch ſeinen Augen nicht haͤtte trauen wollen,
ſo ließ ihm das, was in ſeinem Herzen vorgieng, keinen
Zweifel uͤbrig. Und doch kam es ihm ſo wenig glaub-
lich vor, daß er gluͤklich genug ſeyn ſollte, nach einer
ſo langen Abweſenheit und bey ſo wenigem Anſchein,
ſie jemals wieder zu ſehen, ſie in dem Gynaͤceo ſeiner
Freunde zu Tarent wieder zu finden! Ein andrer Gedanke,
der in dieſen Umſtaͤnden ſehr natuͤrlich war, vermehrte
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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/316>, abgerufen am 24.11.2024.
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