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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
diese oder eine andre Art, je nachdem Zeit, Umstände,
Temperament und Gewohnheit es mit sich bringen)
ein jeder unterworfen ist; je genauer wir die Menschen
untersuchen, je mehr Gründe finden wir, so zu den-
ken; und diese Denkungsart flösset uns, zu eben der Zeit,
da sie uns eine gewisse Geringschäzung gegen die ganze
Gattung giebt, mehr Nachsicht gegen die Fehler und
Gebrechen der einzelnen Personen, und besondern Ge-
sellschaften, mit denen wir in Verhältniß stehen, ein;
so daß wir das, was wir an jenem tugendhaften
Schwulst, welchen die Einfalt übereilter Weise für die
Tugend selbst hält, verliehren, zu eben der Zeit an den
nothwendigsten und liebenswürdigsten Tugenden, an Ge-
selligkeit und Mässigung gewinnen: Tugenden, welche
zwar nichts blendendes haben, aber desto mehr Wärme
geben, und uns desto geschikter machen, unter Ge-
schöpfen zu leben, welche ihrer alle Augenblike benöthi-
get sind.

Es ist ein gemeiner und oft getadelter Fehler des
menschlichen Geschlechts, daß sie das Wunderbare mehr
lieben als das Natürliche, und das Glänzende mehr als
was nicht so gut in die Augen fällt, wenn es gleich
brauchbarer und dauerhafter ist. Diese Art von dem
Werthe der Sachen zu urtheilen ist nirgends betrüglicher,
als wenn sie auf moralische Gegenstände angewendet
wird. Der Schluß, den man öfters von der Erhaben-
heit der Begriffe und Empfindungen einer Person, und
von der Fertigkeit eine gewisse Sprache der Begeistrung

zu

Agathon.
dieſe oder eine andre Art, je nachdem Zeit, Umſtaͤnde,
Temperament und Gewohnheit es mit ſich bringen)
ein jeder unterworfen iſt; je genauer wir die Menſchen
unterſuchen, je mehr Gruͤnde finden wir, ſo zu den-
ken; und dieſe Denkungsart floͤſſet uns, zu eben der Zeit,
da ſie uns eine gewiſſe Geringſchaͤzung gegen die ganze
Gattung giebt, mehr Nachſicht gegen die Fehler und
Gebrechen der einzelnen Perſonen, und beſondern Ge-
ſellſchaften, mit denen wir in Verhaͤltniß ſtehen, ein;
ſo daß wir das, was wir an jenem tugendhaften
Schwulſt, welchen die Einfalt uͤbereilter Weiſe fuͤr die
Tugend ſelbſt haͤlt, verliehren, zu eben der Zeit an den
nothwendigſten und liebenswuͤrdigſten Tugenden, an Ge-
ſelligkeit und Maͤſſigung gewinnen: Tugenden, welche
zwar nichts blendendes haben, aber deſto mehr Waͤrme
geben, und uns deſto geſchikter machen, unter Ge-
ſchoͤpfen zu leben, welche ihrer alle Augenblike benoͤthi-
get ſind.

Es iſt ein gemeiner und oft getadelter Fehler des
menſchlichen Geſchlechts, daß ſie das Wunderbare mehr
lieben als das Natuͤrliche, und das Glaͤnzende mehr als
was nicht ſo gut in die Augen faͤllt, wenn es gleich
brauchbarer und dauerhafter iſt. Dieſe Art von dem
Werthe der Sachen zu urtheilen iſt nirgends betruͤglicher,
als wenn ſie auf moraliſche Gegenſtaͤnde angewendet
wird. Der Schluß, den man oͤfters von der Erhaben-
heit der Begriffe und Empfindungen einer Perſon, und
von der Fertigkeit eine gewiſſe Sprache der Begeiſtrung

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[282/0284] Agathon. dieſe oder eine andre Art, je nachdem Zeit, Umſtaͤnde, Temperament und Gewohnheit es mit ſich bringen) ein jeder unterworfen iſt; je genauer wir die Menſchen unterſuchen, je mehr Gruͤnde finden wir, ſo zu den- ken; und dieſe Denkungsart floͤſſet uns, zu eben der Zeit, da ſie uns eine gewiſſe Geringſchaͤzung gegen die ganze Gattung giebt, mehr Nachſicht gegen die Fehler und Gebrechen der einzelnen Perſonen, und beſondern Ge- ſellſchaften, mit denen wir in Verhaͤltniß ſtehen, ein; ſo daß wir das, was wir an jenem tugendhaften Schwulſt, welchen die Einfalt uͤbereilter Weiſe fuͤr die Tugend ſelbſt haͤlt, verliehren, zu eben der Zeit an den nothwendigſten und liebenswuͤrdigſten Tugenden, an Ge- ſelligkeit und Maͤſſigung gewinnen: Tugenden, welche zwar nichts blendendes haben, aber deſto mehr Waͤrme geben, und uns deſto geſchikter machen, unter Ge- ſchoͤpfen zu leben, welche ihrer alle Augenblike benoͤthi- get ſind. Es iſt ein gemeiner und oft getadelter Fehler des menſchlichen Geſchlechts, daß ſie das Wunderbare mehr lieben als das Natuͤrliche, und das Glaͤnzende mehr als was nicht ſo gut in die Augen faͤllt, wenn es gleich brauchbarer und dauerhafter iſt. Dieſe Art von dem Werthe der Sachen zu urtheilen iſt nirgends betruͤglicher, als wenn ſie auf moraliſche Gegenſtaͤnde angewendet wird. Der Schluß, den man oͤfters von der Erhaben- heit der Begriffe und Empfindungen einer Perſon, und von der Fertigkeit eine gewiſſe Sprache der Begeiſtrung zu

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/284>, abgerufen am 26.11.2024.