Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Neuntes Buch, viertes Capitel.
Kopf, den sie ihren Genie nennen, ihnen zum grösse-
sten Vergnügen ihres Lebens macht.

Dionys befand diesen Rath seines würdigen Mini-
sters vollkommen nach seinem Geschmak. Philistus über-
gab ihm eine Liste von mehr als zwanzig Candidaten,
aus denen man, wie er sagte, nach Belieben auswäh-
len könnte. Dionys glaubte, daß man dieser nüzlichen
Leute nicht zuviel haben könne, und wählte alle. Alle
schönen Geister Griechenlandes wurden unter blenden-
den Verheissungen an seinen Hof eingeladen. Jn kur-
zer Zeit wimmelte es in seinen Vorsälen von Philoso-
phen und Priestern der Musen. Alle Arten von Dich-
tern, Epische, Tragische, Comische, Lyrische, welche
ihr Glük zu Athen nicht hatten machen können, zogen
nach Syracus, um ihre Leyern und Flöten an den an-
muthigen Ufern des Anapus zu stimmen, und -- sich
satt zu essen. Sie glaubten, daß es ihnen gar wol er-
laubt seyn könne, die Tugenden des Dionys zu besin-
gen, nachdem der göttliche Pindar sich nicht geschämt
hatte, die Maulesel des Hieron unsterblich zu machen.
So gar der cynische Antisthenes ließ sich durch die Hof-
nung herbeyloken, daß ihn die Freygebigkeit des Dionys
in den Stand sezen würde, die Vortheile der freywil-
ligen Armuth und der Enthaltsamkeit mit desto mehr
Gemächlichkeit zu studieren; Tugenden, von deren Schön-
heit, nach dem stillschweigenden Geständuis ihrer eyf-
rigsten Lobredner, sich nach einer guten Mahlzeit am
beredtesten sprechen läßt. Kurz, Dionys hatte das Ver-

gnügen,
K 4

Neuntes Buch, viertes Capitel.
Kopf, den ſie ihren Genie nennen, ihnen zum groͤſſe-
ſten Vergnuͤgen ihres Lebens macht.

Dionys befand dieſen Rath ſeines wuͤrdigen Mini-
ſters vollkommen nach ſeinem Geſchmak. Philiſtus uͤber-
gab ihm eine Liſte von mehr als zwanzig Candidaten,
aus denen man, wie er ſagte, nach Belieben auswaͤh-
len koͤnnte. Dionys glaubte, daß man dieſer nuͤzlichen
Leute nicht zuviel haben koͤnne, und waͤhlte alle. Alle
ſchoͤnen Geiſter Griechenlandes wurden unter blenden-
den Verheiſſungen an ſeinen Hof eingeladen. Jn kur-
zer Zeit wimmelte es in ſeinen Vorſaͤlen von Philoſo-
phen und Prieſtern der Muſen. Alle Arten von Dich-
tern, Epiſche, Tragiſche, Comiſche, Lyriſche, welche
ihr Gluͤk zu Athen nicht hatten machen koͤnnen, zogen
nach Syracus, um ihre Leyern und Floͤten an den an-
muthigen Ufern des Anapus zu ſtimmen, und ‒‒ ſich
ſatt zu eſſen. Sie glaubten, daß es ihnen gar wol er-
laubt ſeyn koͤnne, die Tugenden des Dionys zu beſin-
gen, nachdem der goͤttliche Pindar ſich nicht geſchaͤmt
hatte, die Mauleſel des Hieron unſterblich zu machen.
So gar der cyniſche Antiſthenes ließ ſich durch die Hof-
nung herbeyloken, daß ihn die Freygebigkeit des Dionys
in den Stand ſezen wuͤrde, die Vortheile der freywil-
ligen Armuth und der Enthaltſamkeit mit deſto mehr
Gemaͤchlichkeit zu ſtudieren; Tugenden, von deren Schoͤn-
heit, nach dem ſtillſchweigenden Geſtaͤnduis ihrer eyf-
rigſten Lobredner, ſich nach einer guten Mahlzeit am
beredteſten ſprechen laͤßt. Kurz, Dionys hatte das Ver-

gnuͤgen,
K 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0153" n="151"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Neuntes Buch, viertes Capitel.</hi></fw><lb/>
Kopf, den &#x017F;ie ihren Genie nennen, ihnen zum gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e-<lb/>
&#x017F;ten Vergnu&#x0364;gen ihres Lebens macht.</p><lb/>
            <p>Dionys befand die&#x017F;en Rath &#x017F;eines wu&#x0364;rdigen Mini-<lb/>
&#x017F;ters vollkommen nach &#x017F;einem Ge&#x017F;chmak. Phili&#x017F;tus u&#x0364;ber-<lb/>
gab ihm eine Li&#x017F;te von mehr als zwanzig Candidaten,<lb/>
aus denen man, wie er &#x017F;agte, nach Belieben auswa&#x0364;h-<lb/>
len ko&#x0364;nnte. Dionys glaubte, daß man die&#x017F;er nu&#x0364;zlichen<lb/>
Leute nicht zuviel haben ko&#x0364;nne, und wa&#x0364;hlte alle. Alle<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;nen Gei&#x017F;ter Griechenlandes wurden unter blenden-<lb/>
den Verhei&#x017F;&#x017F;ungen an &#x017F;einen Hof eingeladen. Jn kur-<lb/>
zer Zeit wimmelte es in &#x017F;einen Vor&#x017F;a&#x0364;len von Philo&#x017F;o-<lb/>
phen und Prie&#x017F;tern der Mu&#x017F;en. Alle Arten von Dich-<lb/>
tern, Epi&#x017F;che, Tragi&#x017F;che, Comi&#x017F;che, Lyri&#x017F;che, welche<lb/>
ihr Glu&#x0364;k zu Athen nicht hatten machen ko&#x0364;nnen, zogen<lb/>
nach Syracus, um ihre Leyern und Flo&#x0364;ten an den an-<lb/>
muthigen Ufern des Anapus zu &#x017F;timmen, und &#x2012;&#x2012; &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;att zu e&#x017F;&#x017F;en. Sie glaubten, daß es ihnen gar wol er-<lb/>
laubt &#x017F;eyn ko&#x0364;nne, die Tugenden des Dionys zu be&#x017F;in-<lb/>
gen, nachdem der go&#x0364;ttliche Pindar &#x017F;ich nicht ge&#x017F;cha&#x0364;mt<lb/>
hatte, die Maule&#x017F;el des Hieron un&#x017F;terblich zu machen.<lb/>
So gar der cyni&#x017F;che Anti&#x017F;thenes ließ &#x017F;ich durch die Hof-<lb/>
nung herbeyloken, daß ihn die Freygebigkeit des Dionys<lb/>
in den Stand &#x017F;ezen wu&#x0364;rde, die Vortheile der freywil-<lb/>
ligen Armuth und der Enthalt&#x017F;amkeit mit de&#x017F;to mehr<lb/>
Gema&#x0364;chlichkeit zu &#x017F;tudieren; Tugenden, von deren Scho&#x0364;n-<lb/>
heit, nach dem &#x017F;till&#x017F;chweigenden Ge&#x017F;ta&#x0364;nduis ihrer eyf-<lb/>
rig&#x017F;ten Lobredner, &#x017F;ich nach einer guten Mahlzeit am<lb/>
beredte&#x017F;ten &#x017F;prechen la&#x0364;ßt. Kurz, Dionys hatte das Ver-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">K 4</fw><fw place="bottom" type="catch">gnu&#x0364;gen,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[151/0153] Neuntes Buch, viertes Capitel. Kopf, den ſie ihren Genie nennen, ihnen zum groͤſſe- ſten Vergnuͤgen ihres Lebens macht. Dionys befand dieſen Rath ſeines wuͤrdigen Mini- ſters vollkommen nach ſeinem Geſchmak. Philiſtus uͤber- gab ihm eine Liſte von mehr als zwanzig Candidaten, aus denen man, wie er ſagte, nach Belieben auswaͤh- len koͤnnte. Dionys glaubte, daß man dieſer nuͤzlichen Leute nicht zuviel haben koͤnne, und waͤhlte alle. Alle ſchoͤnen Geiſter Griechenlandes wurden unter blenden- den Verheiſſungen an ſeinen Hof eingeladen. Jn kur- zer Zeit wimmelte es in ſeinen Vorſaͤlen von Philoſo- phen und Prieſtern der Muſen. Alle Arten von Dich- tern, Epiſche, Tragiſche, Comiſche, Lyriſche, welche ihr Gluͤk zu Athen nicht hatten machen koͤnnen, zogen nach Syracus, um ihre Leyern und Floͤten an den an- muthigen Ufern des Anapus zu ſtimmen, und ‒‒ ſich ſatt zu eſſen. Sie glaubten, daß es ihnen gar wol er- laubt ſeyn koͤnne, die Tugenden des Dionys zu beſin- gen, nachdem der goͤttliche Pindar ſich nicht geſchaͤmt hatte, die Mauleſel des Hieron unſterblich zu machen. So gar der cyniſche Antiſthenes ließ ſich durch die Hof- nung herbeyloken, daß ihn die Freygebigkeit des Dionys in den Stand ſezen wuͤrde, die Vortheile der freywil- ligen Armuth und der Enthaltſamkeit mit deſto mehr Gemaͤchlichkeit zu ſtudieren; Tugenden, von deren Schoͤn- heit, nach dem ſtillſchweigenden Geſtaͤnduis ihrer eyf- rigſten Lobredner, ſich nach einer guten Mahlzeit am beredteſten ſprechen laͤßt. Kurz, Dionys hatte das Ver- gnuͤgen, K 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/153
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/153>, abgerufen am 22.11.2024.