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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Zweytes Buch, sechstes Capitel.
dadurch? Vielleicht ist die Welt immer in der allge-
meinen Verfassung gewesen, worinn sie ist? -- Vielleicht
ist sie selbst das einzige Wesen, das durch sich selbst
bestehet? -- Vielleicht ist der Geist von dem du sag-
test, durch die wesentliche Beschaffenheit seiner Natur
gezwungen, diesen allgemeinen Weltkörper nach den Ge-
sezen einer unveränderlichen Nothwendigkeit zu beleben?
Und gesezt, die Welt sey, wie du meynest, das Werk
eines verständigen und freyen Entschlusses; vielleicht hat
sie viele Urheber? Mit einem Worte, Callias, du hast
viele mögliche Fälle. zu vernichten, eh du nur das Da-
seyn deines obersten Geistes ausser Zweifel gesezt hast.
Agathon.
Jch brauche zu meiner eignen Beruhigung keinen so
weitläufigen Weg. Jch sehe die Sonne, sie ist also;
ich empfinde mich selbst, ich bin also; ich empfinde,
ich sehe diesen obersten Geist, er ist also.
Hippias.
Ein Träumender, ein Kranker, ein Wahnwiziger
sieht; und doch ist das nicht, was er sieht.
Agathon.
Weil er in diesem Zustande nicht recht sehen kann.
Hippias.
Wie kanst du beweisen, daß du nicht gerad in die-
sem Punct krank bist? Frage die Aerzte; man kan in
einem einzigen Stük wahnwizig, nnd in allen übrigen
klug seyn; so wie eine Laute bis auf eine einzige fal-
sche Sayte wohl gestimmt seyn kann. Der rasende
Ajax
Zweytes Buch, ſechſtes Capitel.
dadurch? Vielleicht iſt die Welt immer in der allge-
meinen Verfaſſung geweſen, worinn ſie iſt? ‒‒ Vielleicht
iſt ſie ſelbſt das einzige Weſen, das durch ſich ſelbſt
beſtehet? ‒‒ Vielleicht iſt der Geiſt von dem du ſag-
teſt, durch die weſentliche Beſchaffenheit ſeiner Natur
gezwungen, dieſen allgemeinen Weltkoͤrper nach den Ge-
ſezen einer unveraͤnderlichen Nothwendigkeit zu beleben?
Und geſezt, die Welt ſey, wie du meyneſt, das Werk
eines verſtaͤndigen und freyen Entſchluſſes; vielleicht hat
ſie viele Urheber? Mit einem Worte, Callias, du haſt
viele moͤgliche Faͤlle. zu vernichten, eh du nur das Da-
ſeyn deines oberſten Geiſtes auſſer Zweifel geſezt haſt.
Agathon.
Jch brauche zu meiner eignen Beruhigung keinen ſo
weitlaͤufigen Weg. Jch ſehe die Sonne, ſie iſt alſo;
ich empfinde mich ſelbſt, ich bin alſo; ich empfinde,
ich ſehe dieſen oberſten Geiſt, er iſt alſo.
Hippias.
Ein Traͤumender, ein Kranker, ein Wahnwiziger
ſieht; und doch iſt das nicht, was er ſieht.
Agathon.
Weil er in dieſem Zuſtande nicht recht ſehen kann.
Hippias.
Wie kanſt du beweiſen, daß du nicht gerad in die-
ſem Punct krank biſt? Frage die Aerzte; man kan in
einem einzigen Stuͤk wahnwizig, nnd in allen uͤbrigen
klug ſeyn; ſo wie eine Laute bis auf eine einzige fal-
ſche Sayte wohl geſtimmt ſeyn kann. Der raſende
Ajax
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[63/0085] Zweytes Buch, ſechſtes Capitel. dadurch? Vielleicht iſt die Welt immer in der allge- meinen Verfaſſung geweſen, worinn ſie iſt? ‒‒ Vielleicht iſt ſie ſelbſt das einzige Weſen, das durch ſich ſelbſt beſtehet? ‒‒ Vielleicht iſt der Geiſt von dem du ſag- teſt, durch die weſentliche Beſchaffenheit ſeiner Natur gezwungen, dieſen allgemeinen Weltkoͤrper nach den Ge- ſezen einer unveraͤnderlichen Nothwendigkeit zu beleben? Und geſezt, die Welt ſey, wie du meyneſt, das Werk eines verſtaͤndigen und freyen Entſchluſſes; vielleicht hat ſie viele Urheber? Mit einem Worte, Callias, du haſt viele moͤgliche Faͤlle. zu vernichten, eh du nur das Da- ſeyn deines oberſten Geiſtes auſſer Zweifel geſezt haſt. Agathon. Jch brauche zu meiner eignen Beruhigung keinen ſo weitlaͤufigen Weg. Jch ſehe die Sonne, ſie iſt alſo; ich empfinde mich ſelbſt, ich bin alſo; ich empfinde, ich ſehe dieſen oberſten Geiſt, er iſt alſo. Hippias. Ein Traͤumender, ein Kranker, ein Wahnwiziger ſieht; und doch iſt das nicht, was er ſieht. Agathon. Weil er in dieſem Zuſtande nicht recht ſehen kann. Hippias. Wie kanſt du beweiſen, daß du nicht gerad in die- ſem Punct krank biſt? Frage die Aerzte; man kan in einem einzigen Stuͤk wahnwizig, nnd in allen uͤbrigen klug ſeyn; ſo wie eine Laute bis auf eine einzige fal- ſche Sayte wohl geſtimmt ſeyn kann. Der raſende Ajax

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/85>, abgerufen am 21.11.2024.