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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon,
mal gewiß, daß du ein Thier bist. Du entstehest wie
die Thiere, wächsest wie sie, hast ihre Bedürfnisse, ih-
re Sinnen, ihre Leidenschaften, wirst erhalten wie sie,
vermehrest dich wie sie, stirbst wie sie, und wirst wie
sie wieder zu einem bißchen Wasser und Erde, wie du
vorher gewesen warst. Wenn du einen Vorzug vor ih-
nen hast, so ist es eine schönere Gestalt, ein paar Hän-
de, mit denen du mehr ausrichten kanst als ein Thier
mit seinen Pfoten, eine Bildung gewisser Gliedmaßen,
die dich der Rede fähig macht, und ein lebhafterer
Wiz, der von einer schwächern und reizbarern Beschaf-
fenheit deiner Fibern herkommt; und der doch alle
Künste, womit wir uns so groß zu machen pflegen,
den Thieren abgelernt hat.
Agathon.
Wir haben also sehr verschiedene Begriffe von der
menschlichen Natur, du und ich.
Hippias.
Vermuthlich, weil ich sie für nichts anders halte,
als wofür meine Sinnen und eine Beobachtung ohne
Vorurtheile sie mir geben. Doch ich will freygebig
seyn; ich will dir zugeben, dasjenige was in dir denkt sey
ein Geist, und wesentlich von deinem Körper unter-
schieden. -- Worauf gründest du die Hofnung, daß
dieser Geist noch denken werde, wenn dein Leib zer-
stört seyn wird? Was für eine Erfahrung hast du,
eine Meynung zu bestätigen, die von so vielen Erfah-
rungen bestritten wird? Jch will nicht sagen, daß er
zu
Agathon,
mal gewiß, daß du ein Thier biſt. Du entſteheſt wie
die Thiere, waͤchſeſt wie ſie, haſt ihre Beduͤrfniſſe, ih-
re Sinnen, ihre Leidenſchaften, wirſt erhalten wie ſie,
vermehreſt dich wie ſie, ſtirbſt wie ſie, und wirſt wie
ſie wieder zu einem bißchen Waſſer und Erde, wie du
vorher geweſen warſt. Wenn du einen Vorzug vor ih-
nen haſt, ſo iſt es eine ſchoͤnere Geſtalt, ein paar Haͤn-
de, mit denen du mehr ausrichten kanſt als ein Thier
mit ſeinen Pfoten, eine Bildung gewiſſer Gliedmaßen,
die dich der Rede faͤhig macht, und ein lebhafterer
Wiz, der von einer ſchwaͤchern und reizbarern Beſchaf-
fenheit deiner Fibern herkommt; und der doch alle
Kuͤnſte, womit wir uns ſo groß zu machen pflegen,
den Thieren abgelernt hat.
Agathon.
Wir haben alſo ſehr verſchiedene Begriffe von der
menſchlichen Natur, du und ich.
Hippias.
Vermuthlich, weil ich ſie fuͤr nichts anders halte,
als wofuͤr meine Sinnen und eine Beobachtung ohne
Vorurtheile ſie mir geben. Doch ich will freygebig
ſeyn; ich will dir zugeben, dasjenige was in dir denkt ſey
ein Geiſt, und weſentlich von deinem Koͤrper unter-
ſchieden. ‒‒ Worauf gruͤndeſt du die Hofnung, daß
dieſer Geiſt noch denken werde, wenn dein Leib zer-
ſtoͤrt ſeyn wird? Was fuͤr eine Erfahrung haſt du,
eine Meynung zu beſtaͤtigen, die von ſo vielen Erfah-
rungen beſtritten wird? Jch will nicht ſagen, daß er
zu
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[60/0082] Agathon, mal gewiß, daß du ein Thier biſt. Du entſteheſt wie die Thiere, waͤchſeſt wie ſie, haſt ihre Beduͤrfniſſe, ih- re Sinnen, ihre Leidenſchaften, wirſt erhalten wie ſie, vermehreſt dich wie ſie, ſtirbſt wie ſie, und wirſt wie ſie wieder zu einem bißchen Waſſer und Erde, wie du vorher geweſen warſt. Wenn du einen Vorzug vor ih- nen haſt, ſo iſt es eine ſchoͤnere Geſtalt, ein paar Haͤn- de, mit denen du mehr ausrichten kanſt als ein Thier mit ſeinen Pfoten, eine Bildung gewiſſer Gliedmaßen, die dich der Rede faͤhig macht, und ein lebhafterer Wiz, der von einer ſchwaͤchern und reizbarern Beſchaf- fenheit deiner Fibern herkommt; und der doch alle Kuͤnſte, womit wir uns ſo groß zu machen pflegen, den Thieren abgelernt hat. Agathon. Wir haben alſo ſehr verſchiedene Begriffe von der menſchlichen Natur, du und ich. Hippias. Vermuthlich, weil ich ſie fuͤr nichts anders halte, als wofuͤr meine Sinnen und eine Beobachtung ohne Vorurtheile ſie mir geben. Doch ich will freygebig ſeyn; ich will dir zugeben, dasjenige was in dir denkt ſey ein Geiſt, und weſentlich von deinem Koͤrper unter- ſchieden. ‒‒ Worauf gruͤndeſt du die Hofnung, daß dieſer Geiſt noch denken werde, wenn dein Leib zer- ſtoͤrt ſeyn wird? Was fuͤr eine Erfahrung haſt du, eine Meynung zu beſtaͤtigen, die von ſo vielen Erfah- rungen beſtritten wird? Jch will nicht ſagen, daß er zu

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/82>, abgerufen am 29.03.2024.