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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Zweytes Buch, drittes Capitel.
von Hippias, dem Weisen, zu werden. Er war noch
im Nachdenken begriffen, was für eine Art von Weis-
heit dieses seyn möchte, als Hippias, der indeß seinem
Zahlmeister befohlen hatte, den Cilicier zu befriedigen,
ihn in sein Cabinet rufen ließ, und ihm seine künftige
Bestimmung in diesen Worten ankündigte: Die Geseze,
Callias, (denn dieses soll künftig dein Name seyn) ge-
ben mir zwar das Recht, dich als meinen Leibeigenen
anzusehen; aber es wird nur von dir abhangen, so
glüklich in meinem Hause zu seyn, als ich selbst. Alle
deine Verrichtungeu werden darin bestehen, den Homer
bey meinem Tische, und die Aufsäze, mit deren Ausar-
beitung ich mir die Zeit vertreibe, in meinem Hör-Saal
vorzulesen. Wenn dieses Amt leicht zu seyn scheint, so
versichre ich dich, daß ich nicht leicht zu befriedigen bin,
und daß du Kenner zu Hörern haben wirst. Ein Jonisches
Ohr will nicht nur ergözt, es will bezaubert seyn. Die
Annehmlichkeit der Stimme, die Reinigkeit und das
Weiche der Aussprache, die Richtigkeit des Accents,
das Muntre, das Ungezwungene, das Musicalische ist
nicht hinlänglich; wir fodern eine vollkommne Nach-
ahmung, einen Ausdruk, der jedem Theile des Stüks,
jeder Periode, jedem Vers das Leben, den Affect, die
Seele giebt, die sie haben sollen; kurz, die Art, wie
gelesen wird, soll das Ohr an die Stelle aller übrigen
Sinne sezen. Das Gastmal des Alcinous soll diesen
Abend dein Probstük seyn. Die Fähigkeiten, die ich
an dir zu entdeken hoffe, werden meine Absichten mit

dir

Zweytes Buch, drittes Capitel.
von Hippias, dem Weiſen, zu werden. Er war noch
im Nachdenken begriffen, was fuͤr eine Art von Weis-
heit dieſes ſeyn moͤchte, als Hippias, der indeß ſeinem
Zahlmeiſter befohlen hatte, den Cilicier zu befriedigen,
ihn in ſein Cabinet rufen ließ, und ihm ſeine kuͤnftige
Beſtimmung in dieſen Worten ankuͤndigte: Die Geſeze,
Callias, (denn dieſes ſoll kuͤnftig dein Name ſeyn) ge-
ben mir zwar das Recht, dich als meinen Leibeigenen
anzuſehen; aber es wird nur von dir abhangen, ſo
gluͤklich in meinem Hauſe zu ſeyn, als ich ſelbſt. Alle
deine Verrichtungeu werden darin beſtehen, den Homer
bey meinem Tiſche, und die Aufſaͤze, mit deren Ausar-
beitung ich mir die Zeit vertreibe, in meinem Hoͤr-Saal
vorzuleſen. Wenn dieſes Amt leicht zu ſeyn ſcheint, ſo
verſichre ich dich, daß ich nicht leicht zu befriedigen bin,
und daß du Kenner zu Hoͤrern haben wirſt. Ein Joniſches
Ohr will nicht nur ergoͤzt, es will bezaubert ſeyn. Die
Annehmlichkeit der Stimme, die Reinigkeit und das
Weiche der Ausſprache, die Richtigkeit des Accents,
das Muntre, das Ungezwungene, das Muſicaliſche iſt
nicht hinlaͤnglich; wir fodern eine vollkommne Nach-
ahmung, einen Ausdruk, der jedem Theile des Stuͤks,
jeder Periode, jedem Vers das Leben, den Affect, die
Seele giebt, die ſie haben ſollen; kurz, die Art, wie
geleſen wird, ſoll das Ohr an die Stelle aller uͤbrigen
Sinne ſezen. Das Gaſtmal des Alcinous ſoll dieſen
Abend dein Probſtuͤk ſeyn. Die Faͤhigkeiten, die ich
an dir zu entdeken hoffe, werden meine Abſichten mit

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[47/0069] Zweytes Buch, drittes Capitel. von Hippias, dem Weiſen, zu werden. Er war noch im Nachdenken begriffen, was fuͤr eine Art von Weis- heit dieſes ſeyn moͤchte, als Hippias, der indeß ſeinem Zahlmeiſter befohlen hatte, den Cilicier zu befriedigen, ihn in ſein Cabinet rufen ließ, und ihm ſeine kuͤnftige Beſtimmung in dieſen Worten ankuͤndigte: Die Geſeze, Callias, (denn dieſes ſoll kuͤnftig dein Name ſeyn) ge- ben mir zwar das Recht, dich als meinen Leibeigenen anzuſehen; aber es wird nur von dir abhangen, ſo gluͤklich in meinem Hauſe zu ſeyn, als ich ſelbſt. Alle deine Verrichtungeu werden darin beſtehen, den Homer bey meinem Tiſche, und die Aufſaͤze, mit deren Ausar- beitung ich mir die Zeit vertreibe, in meinem Hoͤr-Saal vorzuleſen. Wenn dieſes Amt leicht zu ſeyn ſcheint, ſo verſichre ich dich, daß ich nicht leicht zu befriedigen bin, und daß du Kenner zu Hoͤrern haben wirſt. Ein Joniſches Ohr will nicht nur ergoͤzt, es will bezaubert ſeyn. Die Annehmlichkeit der Stimme, die Reinigkeit und das Weiche der Ausſprache, die Richtigkeit des Accents, das Muntre, das Ungezwungene, das Muſicaliſche iſt nicht hinlaͤnglich; wir fodern eine vollkommne Nach- ahmung, einen Ausdruk, der jedem Theile des Stuͤks, jeder Periode, jedem Vers das Leben, den Affect, die Seele giebt, die ſie haben ſollen; kurz, die Art, wie geleſen wird, ſoll das Ohr an die Stelle aller uͤbrigen Sinne ſezen. Das Gaſtmal des Alcinous ſoll dieſen Abend dein Probſtuͤk ſeyn. Die Faͤhigkeiten, die ich an dir zu entdeken hoffe, werden meine Abſichten mit dir

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/69>, abgerufen am 23.11.2024.