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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Zweytes Buch, zweytes Capitel.
und den ersten Worten desselben urtheilte, daß er sich
zu einem Dienst vollkommen schiken würde, wozu eine
gefallende Gesichts-Bildung und eine musicalische Stim-
me die nöthigsten Gaben sind. Allein Hippias hatte
noch eine geheime Absicht, die er durch diesen Jüng-
ling zu erreichen hofte. Obgleich die Liebe zu
den Wollüsten der Sinne seine herrschende Neigung
zu seyn schien, so hatte doch die Eitelkeit nicht we-
niger Antheil an den meisten Handlungen seines Lebens.
Er hatte, bevor er sich nach Smyrna begab, um die
Früchte seiner Arbeit zu geniessen, den schönsten Theil
seines Lebens zugebracht, die edelste Jugend der griechi-
schen Städte zu bilden; er hatte Redner gebildet, die
durch eine künstliche Vermischung des Wahren und Fal-
schen, und den klugen Gebrauch gewisser Figuren, einer
schlimmen Sache den Schein und die Würkung einer gu-
ten zu geben wußten; Staats-Männer, welche die Kunst
besassen, mitten unter den Zujauchzungen eines bethör-
ten Volks die Geseze durch die Freyheit und die Frey-
heit durch schlimme Sitten zu vernichten; um diejenigen,
die sich der heilsamen Zucht der Geseze nicht unterwer-
fen wollten, der willkürlichen Gewalt ihrer Leidenschaf-
ten zu unterwerfen; kurz, er hatte Leute gebildet, die
sich Ehren-Säulen dafür aufrichten liessen, daß sie ihr
Vaterland zu Grunde richteten. Allein dieses befriedigte
seine Eitelkeit noch nicht: Er wollte auch jemand hin-
terlassen, der seine Kunst fortzusezen geschikt wäre; eine
Kunst, die in seinen Augen allzuschön war, als daß sie

mit

Zweytes Buch, zweytes Capitel.
und den erſten Worten deſſelben urtheilte, daß er ſich
zu einem Dienſt vollkommen ſchiken wuͤrde, wozu eine
gefallende Geſichts-Bildung und eine muſicaliſche Stim-
me die noͤthigſten Gaben ſind. Allein Hippias hatte
noch eine geheime Abſicht, die er durch dieſen Juͤng-
ling zu erreichen hofte. Obgleich die Liebe zu
den Wolluͤſten der Sinne ſeine herrſchende Neigung
zu ſeyn ſchien, ſo hatte doch die Eitelkeit nicht we-
niger Antheil an den meiſten Handlungen ſeines Lebens.
Er hatte, bevor er ſich nach Smyrna begab, um die
Fruͤchte ſeiner Arbeit zu genieſſen, den ſchoͤnſten Theil
ſeines Lebens zugebracht, die edelſte Jugend der griechi-
ſchen Staͤdte zu bilden; er hatte Redner gebildet, die
durch eine kuͤnſtliche Vermiſchung des Wahren und Fal-
ſchen, und den klugen Gebrauch gewiſſer Figuren, einer
ſchlimmen Sache den Schein und die Wuͤrkung einer gu-
ten zu geben wußten; Staats-Maͤnner, welche die Kunſt
beſaſſen, mitten unter den Zujauchzungen eines bethoͤr-
ten Volks die Geſeze durch die Freyheit und die Frey-
heit durch ſchlimme Sitten zu vernichten; um diejenigen,
die ſich der heilſamen Zucht der Geſeze nicht unterwer-
fen wollten, der willkuͤrlichen Gewalt ihrer Leidenſchaf-
ten zu unterwerfen; kurz, er hatte Leute gebildet, die
ſich Ehren-Saͤulen dafuͤr aufrichten lieſſen, daß ſie ihr
Vaterland zu Grunde richteten. Allein dieſes befriedigte
ſeine Eitelkeit noch nicht: Er wollte auch jemand hin-
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Kunſt, die in ſeinen Augen allzuſchoͤn war, als daß ſie

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[45/0067] Zweytes Buch, zweytes Capitel. und den erſten Worten deſſelben urtheilte, daß er ſich zu einem Dienſt vollkommen ſchiken wuͤrde, wozu eine gefallende Geſichts-Bildung und eine muſicaliſche Stim- me die noͤthigſten Gaben ſind. Allein Hippias hatte noch eine geheime Abſicht, die er durch dieſen Juͤng- ling zu erreichen hofte. Obgleich die Liebe zu den Wolluͤſten der Sinne ſeine herrſchende Neigung zu ſeyn ſchien, ſo hatte doch die Eitelkeit nicht we- niger Antheil an den meiſten Handlungen ſeines Lebens. Er hatte, bevor er ſich nach Smyrna begab, um die Fruͤchte ſeiner Arbeit zu genieſſen, den ſchoͤnſten Theil ſeines Lebens zugebracht, die edelſte Jugend der griechi- ſchen Staͤdte zu bilden; er hatte Redner gebildet, die durch eine kuͤnſtliche Vermiſchung des Wahren und Fal- ſchen, und den klugen Gebrauch gewiſſer Figuren, einer ſchlimmen Sache den Schein und die Wuͤrkung einer gu- ten zu geben wußten; Staats-Maͤnner, welche die Kunſt beſaſſen, mitten unter den Zujauchzungen eines bethoͤr- ten Volks die Geſeze durch die Freyheit und die Frey- heit durch ſchlimme Sitten zu vernichten; um diejenigen, die ſich der heilſamen Zucht der Geſeze nicht unterwer- fen wollten, der willkuͤrlichen Gewalt ihrer Leidenſchaf- ten zu unterwerfen; kurz, er hatte Leute gebildet, die ſich Ehren-Saͤulen dafuͤr aufrichten lieſſen, daß ſie ihr Vaterland zu Grunde richteten. Allein dieſes befriedigte ſeine Eitelkeit noch nicht: Er wollte auch jemand hin- terlaſſen, der ſeine Kunſt fortzuſezen geſchikt waͤre; eine Kunſt, die in ſeinen Augen allzuſchoͤn war, als daß ſie mit

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/67>, abgerufen am 29.03.2024.