Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Buch, siebentes Capitel.
nehmen. Allein eben diese leutselige Organisation,
welche sie gütig gegen sich selbst, gegen ihr Schooßhünd-
chen und gegen alle Welt machte, machte sie auch gü-
tig gegen die Thorheiten ihres Sohnes. Sie schien es
so gar übel zu nehmen, daß ich von den Vorzügen ei-
nes so liebreizenden jungen Herrn nicht stärker gerührt
würde. Die Ungeduld über die Anfälle, denen ich be-
ständig ausgesezt war, gab mir tausendmal den Gedan-
ken ein, mich heimlich hinweg zu stehlen. Allein ich
hatte keine Nachricht von dir; ein Reisender von Del-
phi hatte uns zwar gesagt, daß du daselbst unsichtbar
geworden, aber niemand konnte sagen wo du seyest.
Diese Ungewißheit stürzte mich in eine Unruhe, die
meiner Gesundheit nachtheilig zu werden anfieng; als
eben dieser Narcissus, dessen lächerliche Liebe zu sich
selbst mich so lange gequält hatte, mir ohne seine Ab-
sicht das Leben wieder gab, indem er erzählte, daß ein
gewisser Agathon von Athen, nach einem Sieg über die
aufrührischen Einwohner von Euböa, diese Jnsel seiner
Republik wieder unterworfen habe. Die Umstände die
er von diesem Agathon hinzu fügte, liessen mich nicht
zweifeln, daß du es seyest. Eine Sclavin, die mir ge-
wogen war, beförderte meine Flucht. Sie hatte ei-
nen Liebhaber, der sie beredet hatte, sich von ihm ent-
führen zu lassen. Jch half ihr, dieses Vorhaben aus-
zuführen und begleitete sie; der junge Sicilianer ver-
schafte mir zur Dankbarkeit dieses Sclavenkleid, und
brachte mich auf ein Schiff, welches nach Athen be-
stimmt war. Jch wurde für einen Sclaven ansgege-

ben,
B 3

Erſtes Buch, ſiebentes Capitel.
nehmen. Allein eben dieſe leutſelige Organiſation,
welche ſie guͤtig gegen ſich ſelbſt, gegen ihr Schooßhuͤnd-
chen und gegen alle Welt machte, machte ſie auch guͤ-
tig gegen die Thorheiten ihres Sohnes. Sie ſchien es
ſo gar uͤbel zu nehmen, daß ich von den Vorzuͤgen ei-
nes ſo liebreizenden jungen Herrn nicht ſtaͤrker geruͤhrt
wuͤrde. Die Ungeduld uͤber die Anfaͤlle, denen ich be-
ſtaͤndig ausgeſezt war, gab mir tauſendmal den Gedan-
ken ein, mich heimlich hinweg zu ſtehlen. Allein ich
hatte keine Nachricht von dir; ein Reiſender von Del-
phi hatte uns zwar geſagt, daß du daſelbſt unſichtbar
geworden, aber niemand konnte ſagen wo du ſeyeſt.
Dieſe Ungewißheit ſtuͤrzte mich in eine Unruhe, die
meiner Geſundheit nachtheilig zu werden anfieng; als
eben dieſer Narciſſus, deſſen laͤcherliche Liebe zu ſich
ſelbſt mich ſo lange gequaͤlt hatte, mir ohne ſeine Ab-
ſicht das Leben wieder gab, indem er erzaͤhlte, daß ein
gewiſſer Agathon von Athen, nach einem Sieg uͤber die
aufruͤhriſchen Einwohner von Euboͤa, dieſe Jnſel ſeiner
Republik wieder unterworfen habe. Die Umſtaͤnde die
er von dieſem Agathon hinzu fuͤgte, lieſſen mich nicht
zweifeln, daß du es ſeyeſt. Eine Sclavin, die mir ge-
wogen war, befoͤrderte meine Flucht. Sie hatte ei-
nen Liebhaber, der ſie beredet hatte, ſich von ihm ent-
fuͤhren zu laſſen. Jch half ihr, dieſes Vorhaben aus-
zufuͤhren und begleitete ſie; der junge Sicilianer ver-
ſchafte mir zur Dankbarkeit dieſes Sclavenkleid, und
brachte mich auf ein Schiff, welches nach Athen be-
ſtimmt war. Jch wurde fuͤr einen Sclaven ansgege-

ben,
B 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0043" n="21"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Er&#x017F;tes Buch, &#x017F;iebentes Capitel.</hi></fw><lb/>
nehmen. Allein eben die&#x017F;e leut&#x017F;elige Organi&#x017F;ation,<lb/>
welche &#x017F;ie gu&#x0364;tig gegen &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, gegen ihr Schooßhu&#x0364;nd-<lb/>
chen und gegen alle Welt machte, machte &#x017F;ie auch gu&#x0364;-<lb/>
tig gegen die Thorheiten ihres Sohnes. Sie &#x017F;chien es<lb/>
&#x017F;o gar u&#x0364;bel zu nehmen, daß ich von den Vorzu&#x0364;gen ei-<lb/>
nes &#x017F;o liebreizenden jungen Herrn nicht &#x017F;ta&#x0364;rker geru&#x0364;hrt<lb/>
wu&#x0364;rde. Die Ungeduld u&#x0364;ber die Anfa&#x0364;lle, denen ich be-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndig ausge&#x017F;ezt war, gab mir tau&#x017F;endmal den Gedan-<lb/>
ken ein, mich heimlich hinweg zu &#x017F;tehlen. Allein ich<lb/>
hatte keine Nachricht von dir; ein Rei&#x017F;ender von Del-<lb/>
phi hatte uns zwar ge&#x017F;agt, daß du da&#x017F;elb&#x017F;t un&#x017F;ichtbar<lb/>
geworden, aber niemand konnte &#x017F;agen wo du &#x017F;eye&#x017F;t.<lb/>
Die&#x017F;e Ungewißheit &#x017F;tu&#x0364;rzte mich in eine Unruhe, die<lb/>
meiner Ge&#x017F;undheit nachtheilig zu werden anfieng; als<lb/>
eben die&#x017F;er Narci&#x017F;&#x017F;us, de&#x017F;&#x017F;en la&#x0364;cherliche Liebe zu &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t mich &#x017F;o lange gequa&#x0364;lt hatte, mir ohne &#x017F;eine Ab-<lb/>
&#x017F;icht das Leben wieder gab, indem er erza&#x0364;hlte, daß ein<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;er Agathon von Athen, nach einem Sieg u&#x0364;ber die<lb/>
aufru&#x0364;hri&#x017F;chen Einwohner von Eubo&#x0364;a, die&#x017F;e Jn&#x017F;el &#x017F;einer<lb/>
Republik wieder unterworfen habe. Die Um&#x017F;ta&#x0364;nde die<lb/>
er von die&#x017F;em Agathon hinzu fu&#x0364;gte, lie&#x017F;&#x017F;en mich nicht<lb/>
zweifeln, daß du es &#x017F;eye&#x017F;t. Eine Sclavin, die mir ge-<lb/>
wogen war, befo&#x0364;rderte meine Flucht. Sie hatte ei-<lb/>
nen Liebhaber, der &#x017F;ie beredet hatte, &#x017F;ich von ihm ent-<lb/>
fu&#x0364;hren zu la&#x017F;&#x017F;en. Jch half ihr, die&#x017F;es Vorhaben aus-<lb/>
zufu&#x0364;hren und begleitete &#x017F;ie; der junge Sicilianer ver-<lb/>
&#x017F;chafte mir zur Dankbarkeit die&#x017F;es Sclavenkleid, und<lb/>
brachte mich auf ein Schiff, welches nach Athen be-<lb/>
&#x017F;timmt war. Jch wurde fu&#x0364;r einen Sclaven ansgege-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B 3</fw><fw place="bottom" type="catch">ben,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0043] Erſtes Buch, ſiebentes Capitel. nehmen. Allein eben dieſe leutſelige Organiſation, welche ſie guͤtig gegen ſich ſelbſt, gegen ihr Schooßhuͤnd- chen und gegen alle Welt machte, machte ſie auch guͤ- tig gegen die Thorheiten ihres Sohnes. Sie ſchien es ſo gar uͤbel zu nehmen, daß ich von den Vorzuͤgen ei- nes ſo liebreizenden jungen Herrn nicht ſtaͤrker geruͤhrt wuͤrde. Die Ungeduld uͤber die Anfaͤlle, denen ich be- ſtaͤndig ausgeſezt war, gab mir tauſendmal den Gedan- ken ein, mich heimlich hinweg zu ſtehlen. Allein ich hatte keine Nachricht von dir; ein Reiſender von Del- phi hatte uns zwar geſagt, daß du daſelbſt unſichtbar geworden, aber niemand konnte ſagen wo du ſeyeſt. Dieſe Ungewißheit ſtuͤrzte mich in eine Unruhe, die meiner Geſundheit nachtheilig zu werden anfieng; als eben dieſer Narciſſus, deſſen laͤcherliche Liebe zu ſich ſelbſt mich ſo lange gequaͤlt hatte, mir ohne ſeine Ab- ſicht das Leben wieder gab, indem er erzaͤhlte, daß ein gewiſſer Agathon von Athen, nach einem Sieg uͤber die aufruͤhriſchen Einwohner von Euboͤa, dieſe Jnſel ſeiner Republik wieder unterworfen habe. Die Umſtaͤnde die er von dieſem Agathon hinzu fuͤgte, lieſſen mich nicht zweifeln, daß du es ſeyeſt. Eine Sclavin, die mir ge- wogen war, befoͤrderte meine Flucht. Sie hatte ei- nen Liebhaber, der ſie beredet hatte, ſich von ihm ent- fuͤhren zu laſſen. Jch half ihr, dieſes Vorhaben aus- zufuͤhren und begleitete ſie; der junge Sicilianer ver- ſchafte mir zur Dankbarkeit dieſes Sclavenkleid, und brachte mich auf ein Schiff, welches nach Athen be- ſtimmt war. Jch wurde fuͤr einen Sclaven ansgege- ben, B 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/43
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/43>, abgerufen am 21.11.2024.