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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, fünftes Capitel.
als den einzigen Sohn ihres Herrn, bewillkommten,
machte die Freude vollkommen, die ich bey einem so
unverhoften und plözlichen Uebergang von dem Elend
eines sich selbst unbekannten, nakten und allen Zufällen
des Schiksals preiß gegebenen Flüchtlings zu einem so
blendenden Glüks-Stand nothwendig empfinden mußte.
Blendend hätte er wenigstens für manchen andern seyn
können, der durch die Art seiner Erziehung weniger als
ich vorbereitet gewesen wäre, einen solchen Wechsel mit
Bescheidenheit zu ertragen. Jnzwischen bin ich mir
selbst die Gerechtigkeit schuldig, zu sagen, daß die Ver-
sicherung, ein Bürger von Athen, und durch meine
Geburt und die Tugend meiner Voreltern zu Verdien-
sten und schönen Thaten beruffen zu seyn, mir ungleich
mehr Vergnügen machte, als der Anblik der Reichthü-
mer, welche die Gütigkeit meines Vaters mit mir zu
theilen so begierig war, und welche in meinen Augen
nur dadurch einen Werth erhielten, weil sie mir das
Vermögen zu geben schienen, desto freyer und vollkom-
mener nach den Grund-Säzen, die ich eingesogen hatte,
leben zu können. Jch unterhielt mich nun mit einer
neuen Art von Träumen, welche durch ihre Beziehung
auf meine neu entdekten Verhältnisse für mich so wich-
tig, als durch ihre Ausführung eben so viele Woltha-
ten für das menschliche Geschlecht zu seyn schienen. Jch
machte Entwürfe, wie die erhabenen Lehr-Säze meiner
idealischen Sitten-Lehre auf die Einrichtung und Ver-
waltung eines gemeinen Wesens angewendt werden
könnten. Diese Betrachtungen, welche einen guten

Theil
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Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel.
als den einzigen Sohn ihres Herrn, bewillkommten,
machte die Freude vollkommen, die ich bey einem ſo
unverhoften und ploͤzlichen Uebergang von dem Elend
eines ſich ſelbſt unbekannten, nakten und allen Zufaͤllen
des Schikſals preiß gegebenen Fluͤchtlings zu einem ſo
blendenden Gluͤks-Stand nothwendig empfinden mußte.
Blendend haͤtte er wenigſtens fuͤr manchen andern ſeyn
koͤnnen, der durch die Art ſeiner Erziehung weniger als
ich vorbereitet geweſen waͤre, einen ſolchen Wechſel mit
Beſcheidenheit zu ertragen. Jnzwiſchen bin ich mir
ſelbſt die Gerechtigkeit ſchuldig, zu ſagen, daß die Ver-
ſicherung, ein Buͤrger von Athen, und durch meine
Geburt und die Tugend meiner Voreltern zu Verdien-
ſten und ſchoͤnen Thaten beruffen zu ſeyn, mir ungleich
mehr Vergnuͤgen machte, als der Anblik der Reichthuͤ-
mer, welche die Guͤtigkeit meines Vaters mit mir zu
theilen ſo begierig war, und welche in meinen Augen
nur dadurch einen Werth erhielten, weil ſie mir das
Vermoͤgen zu geben ſchienen, deſto freyer und vollkom-
mener nach den Grund-Saͤzen, die ich eingeſogen hatte,
leben zu koͤnnen. Jch unterhielt mich nun mit einer
neuen Art von Traͤumen, welche durch ihre Beziehung
auf meine neu entdekten Verhaͤltniſſe fuͤr mich ſo wich-
tig, als durch ihre Ausfuͤhrung eben ſo viele Woltha-
ten fuͤr das menſchliche Geſchlecht zu ſeyn ſchienen. Jch
machte Entwuͤrfe, wie die erhabenen Lehr-Saͤze meiner
idealiſchen Sitten-Lehre auf die Einrichtung und Ver-
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koͤnnten. Dieſe Betrachtungen, welche einen guten

Theil
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[327/0349] Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. als den einzigen Sohn ihres Herrn, bewillkommten, machte die Freude vollkommen, die ich bey einem ſo unverhoften und ploͤzlichen Uebergang von dem Elend eines ſich ſelbſt unbekannten, nakten und allen Zufaͤllen des Schikſals preiß gegebenen Fluͤchtlings zu einem ſo blendenden Gluͤks-Stand nothwendig empfinden mußte. Blendend haͤtte er wenigſtens fuͤr manchen andern ſeyn koͤnnen, der durch die Art ſeiner Erziehung weniger als ich vorbereitet geweſen waͤre, einen ſolchen Wechſel mit Beſcheidenheit zu ertragen. Jnzwiſchen bin ich mir ſelbſt die Gerechtigkeit ſchuldig, zu ſagen, daß die Ver- ſicherung, ein Buͤrger von Athen, und durch meine Geburt und die Tugend meiner Voreltern zu Verdien- ſten und ſchoͤnen Thaten beruffen zu ſeyn, mir ungleich mehr Vergnuͤgen machte, als der Anblik der Reichthuͤ- mer, welche die Guͤtigkeit meines Vaters mit mir zu theilen ſo begierig war, und welche in meinen Augen nur dadurch einen Werth erhielten, weil ſie mir das Vermoͤgen zu geben ſchienen, deſto freyer und vollkom- mener nach den Grund-Saͤzen, die ich eingeſogen hatte, leben zu koͤnnen. Jch unterhielt mich nun mit einer neuen Art von Traͤumen, welche durch ihre Beziehung auf meine neu entdekten Verhaͤltniſſe fuͤr mich ſo wich- tig, als durch ihre Ausfuͤhrung eben ſo viele Woltha- ten fuͤr das menſchliche Geſchlecht zu ſeyn ſchienen. Jch machte Entwuͤrfe, wie die erhabenen Lehr-Saͤze meiner idealiſchen Sitten-Lehre auf die Einrichtung und Ver- waltung eines gemeinen Weſens angewendt werden koͤnnten. Dieſe Betrachtungen, welche einen guten Theil X 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/349>, abgerufen am 17.06.2024.