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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
beunruhigt, als das ich ihr ein Geheimniß davon hätte
machen können. Wir bedaurten die Priesterin so
schwer es uns auch war, von der Wuth und den Qua-
len einer Liebe, welche mit der unserigen so wenig
ähnliches hatte, uns eine Vorstellung zu machen; aber
wir bedaurten noch vielmehr uns selbst. Die Raserey,
worinn ich die Pythia verlassen hatte, hieß uns das
Aergste besorgen. Wir zitterten eines für des andern
Sicherheit; und aus Furcht, daß sie unsere Zusammen-
künfte entdeken möchte, beschlossen wir, (so hart uns
dieser Entschluß ankam) sie eine Zeitlang seltner zu
machen. Dieses war das erste mal, das die reinen
Vergnügungen unserer schuldlosen Liebe von Sorgen
und Unruhe unterbrochen wurden, und wir mit schwe-
rem Herzen von einander Abschied nahmen. Es war,
als ob es uns ahnete, daß dieses das lezte mal sey,
da wir uns zu Delphi sähen; und wir sagten uns wol
tausend mal Lebe wol; ohne uns eines aus des andern
Armen loswinden zu können. Wir redeten mit einan-
der ab, uns erst in der dritten Nacht wieder zu sehen.
Zufälliger Weise fügte sichs, daß ich in der Zwischen-
Zeit mit der Priesterin in Gesellschaft zusammenkam.
Es war natürlich, daß sie in Gegenwart fremder Leute
ihrem Betragen gegen mich den freundschaftlichen Ton
der Anverwandtschaft gab, welche zwischen uns voraus-
gesezt wurde, und durch welche sie nöthig befunden
hatte, ihren Umgang mit mir gegen die Urtheile stren-
ger Sitten-Richter sicher zu stellen. Allein ausser die-
sem bemerkte ich, daß sie etliche mal, da sie von nie-

mand

Agathon.
beunruhigt, als das ich ihr ein Geheimniß davon haͤtte
machen koͤnnen. Wir bedaurten die Prieſterin ſo
ſchwer es uns auch war, von der Wuth und den Qua-
len einer Liebe, welche mit der unſerigen ſo wenig
aͤhnliches hatte, uns eine Vorſtellung zu machen; aber
wir bedaurten noch vielmehr uns ſelbſt. Die Raſerey,
worinn ich die Pythia verlaſſen hatte, hieß uns das
Aergſte beſorgen. Wir zitterten eines fuͤr des andern
Sicherheit; und aus Furcht, daß ſie unſere Zuſammen-
kuͤnfte entdeken moͤchte, beſchloſſen wir, (ſo hart uns
dieſer Entſchluß ankam) ſie eine Zeitlang ſeltner zu
machen. Dieſes war das erſte mal, das die reinen
Vergnuͤgungen unſerer ſchuldloſen Liebe von Sorgen
und Unruhe unterbrochen wurden, und wir mit ſchwe-
rem Herzen von einander Abſchied nahmen. Es war,
als ob es uns ahnete, daß dieſes das lezte mal ſey,
da wir uns zu Delphi ſaͤhen; und wir ſagten uns wol
tauſend mal Lebe wol; ohne uns eines aus des andern
Armen loswinden zu koͤnnen. Wir redeten mit einan-
der ab, uns erſt in der dritten Nacht wieder zu ſehen.
Zufaͤlliger Weiſe fuͤgte ſichs, daß ich in der Zwiſchen-
Zeit mit der Prieſterin in Geſellſchaft zuſammenkam.
Es war natuͤrlich, daß ſie in Gegenwart fremder Leute
ihrem Betragen gegen mich den freundſchaftlichen Ton
der Anverwandtſchaft gab, welche zwiſchen uns voraus-
geſezt wurde, und durch welche ſie noͤthig befunden
hatte, ihren Umgang mit mir gegen die Urtheile ſtren-
ger Sitten-Richter ſicher zu ſtellen. Allein auſſer die-
ſem bemerkte ich, daß ſie etliche mal, da ſie von nie-

mand
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[306/0328] Agathon. beunruhigt, als das ich ihr ein Geheimniß davon haͤtte machen koͤnnen. Wir bedaurten die Prieſterin ſo ſchwer es uns auch war, von der Wuth und den Qua- len einer Liebe, welche mit der unſerigen ſo wenig aͤhnliches hatte, uns eine Vorſtellung zu machen; aber wir bedaurten noch vielmehr uns ſelbſt. Die Raſerey, worinn ich die Pythia verlaſſen hatte, hieß uns das Aergſte beſorgen. Wir zitterten eines fuͤr des andern Sicherheit; und aus Furcht, daß ſie unſere Zuſammen- kuͤnfte entdeken moͤchte, beſchloſſen wir, (ſo hart uns dieſer Entſchluß ankam) ſie eine Zeitlang ſeltner zu machen. Dieſes war das erſte mal, das die reinen Vergnuͤgungen unſerer ſchuldloſen Liebe von Sorgen und Unruhe unterbrochen wurden, und wir mit ſchwe- rem Herzen von einander Abſchied nahmen. Es war, als ob es uns ahnete, daß dieſes das lezte mal ſey, da wir uns zu Delphi ſaͤhen; und wir ſagten uns wol tauſend mal Lebe wol; ohne uns eines aus des andern Armen loswinden zu koͤnnen. Wir redeten mit einan- der ab, uns erſt in der dritten Nacht wieder zu ſehen. Zufaͤlliger Weiſe fuͤgte ſichs, daß ich in der Zwiſchen- Zeit mit der Prieſterin in Geſellſchaft zuſammenkam. Es war natuͤrlich, daß ſie in Gegenwart fremder Leute ihrem Betragen gegen mich den freundſchaftlichen Ton der Anverwandtſchaft gab, welche zwiſchen uns voraus- geſezt wurde, und durch welche ſie noͤthig befunden hatte, ihren Umgang mit mir gegen die Urtheile ſtren- ger Sitten-Richter ſicher zu ſtellen. Allein auſſer die- ſem bemerkte ich, daß ſie etliche mal, da ſie von nie- mand

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/328>, abgerufen am 24.11.2024.