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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, zweytes Capitel.
theil über alles zurükzuhalten, mich durch nichts be-
fremden zu lassen, und der Vorschrift unsrer Philoso-
phie immer eingedenk zu bleiben, welche eine gänzliche
Unthätigkeit von uns fodert, wenn die Götter auf uns
würken sollen. Man mußte so unerfahren seyn, als ich
war, um keine Schlange unter diesen Blumen zu mer-
ken. Nichts als die Entwiklung dieser heiligen Mumme-
rey konnte mir die Augen öfnen. Jch konnte unmög-
lich aus mir selbst auf den Argwohn gerathen, daß die
Zuneigung einer Gottheit eigennüzig seyn könne. Jch
hatte vielmehr gehoft, die grössesten Vortheile für meine
Wissens-Begierde von ihr zu ziehen, und mit mehr als
menschlichen Vorzügen begabt zu werden. Die Erklä-
rungen des Apollo befremdeten mich endlich, und seine
Handlungen noch mehr; zulezt entdekte ich, was du
schon lange vorher gesehen haben must, daß der ver-
meynte Gott kein andrer als Theogiton selber war;
welcher, sobald er sein Spiel entdekt sah, auf einmal
die Sprache änderte, und mich bereden wollte, daß er
diese Comödie nur zu dem Ende angestellt habe, um
mich von der Eitelkeit der Theosophie, in die er mich
so verliebt gesehen hätte, desto besser überzeugen zu kön-
nen. Er zog die Folge daraus: Daß alles, was man
von den Göttern sagte, Erfindungen schlauer Köpfe
wären, womit sie Weiber und leichtgläubige Knaben in
ihr Nez zu ziehen suchten; Kurz, er wandte alles an,
was eine unsittliche Leidenschaft einem schaamlosen Ver-
ächter der Götter eingeben kan, um die Mühe einer so
wol ausgesonnenen und mit so vielen Maschinen aufge-

stüzten
[Agath. I. Th.] S

Siebentes Buch, zweytes Capitel.
theil uͤber alles zuruͤkzuhalten, mich durch nichts be-
fremden zu laſſen, und der Vorſchrift unſrer Philoſo-
phie immer eingedenk zu bleiben, welche eine gaͤnzliche
Unthaͤtigkeit von uns fodert, wenn die Goͤtter auf uns
wuͤrken ſollen. Man mußte ſo unerfahren ſeyn, als ich
war, um keine Schlange unter dieſen Blumen zu mer-
ken. Nichts als die Entwiklung dieſer heiligen Mumme-
rey konnte mir die Augen oͤfnen. Jch konnte unmoͤg-
lich aus mir ſelbſt auf den Argwohn gerathen, daß die
Zuneigung einer Gottheit eigennuͤzig ſeyn koͤnne. Jch
hatte vielmehr gehoft, die groͤſſeſten Vortheile fuͤr meine
Wiſſens-Begierde von ihr zu ziehen, und mit mehr als
menſchlichen Vorzuͤgen begabt zu werden. Die Erklaͤ-
rungen des Apollo befremdeten mich endlich, und ſeine
Handlungen noch mehr; zulezt entdekte ich, was du
ſchon lange vorher geſehen haben muſt, daß der ver-
meynte Gott kein andrer als Theogiton ſelber war;
welcher, ſobald er ſein Spiel entdekt ſah, auf einmal
die Sprache aͤnderte, und mich bereden wollte, daß er
dieſe Comoͤdie nur zu dem Ende angeſtellt habe, um
mich von der Eitelkeit der Theoſophie, in die er mich
ſo verliebt geſehen haͤtte, deſto beſſer uͤberzeugen zu koͤn-
nen. Er zog die Folge daraus: Daß alles, was man
von den Goͤttern ſagte, Erfindungen ſchlauer Koͤpfe
waͤren, womit ſie Weiber und leichtglaͤubige Knaben in
ihr Nez zu ziehen ſuchten; Kurz, er wandte alles an,
was eine unſittliche Leidenſchaft einem ſchaamloſen Ver-
aͤchter der Goͤtter eingeben kan, um die Muͤhe einer ſo
wol ausgeſonnenen und mit ſo vielen Maſchinen aufge-

ſtuͤzten
[Agath. I. Th.] S
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[273/0295] Siebentes Buch, zweytes Capitel. theil uͤber alles zuruͤkzuhalten, mich durch nichts be- fremden zu laſſen, und der Vorſchrift unſrer Philoſo- phie immer eingedenk zu bleiben, welche eine gaͤnzliche Unthaͤtigkeit von uns fodert, wenn die Goͤtter auf uns wuͤrken ſollen. Man mußte ſo unerfahren ſeyn, als ich war, um keine Schlange unter dieſen Blumen zu mer- ken. Nichts als die Entwiklung dieſer heiligen Mumme- rey konnte mir die Augen oͤfnen. Jch konnte unmoͤg- lich aus mir ſelbſt auf den Argwohn gerathen, daß die Zuneigung einer Gottheit eigennuͤzig ſeyn koͤnne. Jch hatte vielmehr gehoft, die groͤſſeſten Vortheile fuͤr meine Wiſſens-Begierde von ihr zu ziehen, und mit mehr als menſchlichen Vorzuͤgen begabt zu werden. Die Erklaͤ- rungen des Apollo befremdeten mich endlich, und ſeine Handlungen noch mehr; zulezt entdekte ich, was du ſchon lange vorher geſehen haben muſt, daß der ver- meynte Gott kein andrer als Theogiton ſelber war; welcher, ſobald er ſein Spiel entdekt ſah, auf einmal die Sprache aͤnderte, und mich bereden wollte, daß er dieſe Comoͤdie nur zu dem Ende angeſtellt habe, um mich von der Eitelkeit der Theoſophie, in die er mich ſo verliebt geſehen haͤtte, deſto beſſer uͤberzeugen zu koͤn- nen. Er zog die Folge daraus: Daß alles, was man von den Goͤttern ſagte, Erfindungen ſchlauer Koͤpfe waͤren, womit ſie Weiber und leichtglaͤubige Knaben in ihr Nez zu ziehen ſuchten; Kurz, er wandte alles an, was eine unſittliche Leidenſchaft einem ſchaamloſen Ver- aͤchter der Goͤtter eingeben kan, um die Muͤhe einer ſo wol ausgeſonnenen und mit ſo vielen Maſchinen aufge- ſtuͤzten [Agath. I. Th.] S

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/295>, abgerufen am 01.05.2024.