Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite




Agathon.
Sechstes Buch.


Erstes Capitel.
Ein Besuch des Hippias.

Zufällige Ursachen hatten es so gefüget, daß Hippias
sich auf einiche Wochen von Smirna hatte entfer-
nen müssen, und daß die Zeit seiner Abwesenheit
gerade in diejenige Zeit, worinn die Liebe unsers Hel-
den und der schönen Danae den äussersten Punkt ihrer
Höhe erreichte. Dieser Umstand hatte sie gänzlich Mei-
ster von einer Zeit gelassen, welche sie zum Vortheil
der Liebe und des Vergnügens so wohl anzuwenden
wußten. Keiner von Danaes ehemaligen Verehrern
hatte sich erkühnt, ihre Einsamkeit zu stören; und die
Freundinnen, mit denen sie ehmals in Gesellschaft gestan-
den war, hatten zu gutem Glük alle mit ihren eignen
Angelegenheiten so viel zu thun, daß sie keine Zeit be-
hielten, sich um Fremde zu bekümmern. Zudem war
ihr Aufenthalt auf dem Lande nichts ungewöhnliches,
und der allgemeine Genius der Stadt Smirna war
der Freyheit in der Wahl der Vergnügungen allzugün-
stig, als daß eine Danae (von der man ohnehin keine

vestali-




Agathon.
Sechstes Buch.


Erſtes Capitel.
Ein Beſuch des Hippias.

Zufaͤllige Urſachen hatten es ſo gefuͤget, daß Hippias
ſich auf einiche Wochen von Smirna hatte entfer-
nen muͤſſen, und daß die Zeit ſeiner Abweſenheit
gerade in diejenige Zeit, worinn die Liebe unſers Hel-
den und der ſchoͤnen Danae den aͤuſſerſten Punkt ihrer
Hoͤhe erreichte. Dieſer Umſtand hatte ſie gaͤnzlich Mei-
ſter von einer Zeit gelaſſen, welche ſie zum Vortheil
der Liebe und des Vergnuͤgens ſo wohl anzuwenden
wußten. Keiner von Danaes ehemaligen Verehrern
hatte ſich erkuͤhnt, ihre Einſamkeit zu ſtoͤren; und die
Freundinnen, mit denen ſie ehmals in Geſellſchaft geſtan-
den war, hatten zu gutem Gluͤk alle mit ihren eignen
Angelegenheiten ſo viel zu thun, daß ſie keine Zeit be-
hielten, ſich um Fremde zu bekuͤmmern. Zudem war
ihr Aufenthalt auf dem Lande nichts ungewoͤhnliches,
und der allgemeine Genius der Stadt Smirna war
der Freyheit in der Wahl der Vergnuͤgungen allzuguͤn-
ſtig, als daß eine Danae (von der man ohnehin keine

veſtali-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0243" n="221"/>
        <fw place="top" type="header">
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </fw>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Agathon.<lb/>
Sechstes Buch.</hi> </hi> </head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Er&#x017F;tes Capitel.</hi><lb/>
Ein Be&#x017F;uch des Hippias.</hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">Z</hi>ufa&#x0364;llige Ur&#x017F;achen hatten es &#x017F;o gefu&#x0364;get, daß Hippias<lb/>
&#x017F;ich auf einiche Wochen von Smirna hatte entfer-<lb/>
nen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, und daß die Zeit &#x017F;einer Abwe&#x017F;enheit<lb/>
gerade in diejenige Zeit, worinn die Liebe un&#x017F;ers Hel-<lb/>
den und der &#x017F;cho&#x0364;nen Danae den a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;er&#x017F;ten Punkt ihrer<lb/>
Ho&#x0364;he erreichte. Die&#x017F;er Um&#x017F;tand hatte &#x017F;ie ga&#x0364;nzlich Mei-<lb/>
&#x017F;ter von einer Zeit gela&#x017F;&#x017F;en, welche &#x017F;ie zum Vortheil<lb/>
der Liebe und des Vergnu&#x0364;gens &#x017F;o wohl anzuwenden<lb/>
wußten. Keiner von Danaes ehemaligen Verehrern<lb/>
hatte &#x017F;ich erku&#x0364;hnt, ihre Ein&#x017F;amkeit zu &#x017F;to&#x0364;ren; und die<lb/>
Freundinnen, mit denen &#x017F;ie ehmals in Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft ge&#x017F;tan-<lb/>
den war, hatten zu gutem Glu&#x0364;k alle mit ihren eignen<lb/>
Angelegenheiten &#x017F;o viel zu thun, daß &#x017F;ie keine Zeit be-<lb/>
hielten, &#x017F;ich um Fremde zu beku&#x0364;mmern. Zudem war<lb/>
ihr Aufenthalt auf dem Lande nichts ungewo&#x0364;hnliches,<lb/>
und der allgemeine Genius der Stadt Smirna war<lb/>
der Freyheit in der Wahl der Vergnu&#x0364;gungen allzugu&#x0364;n-<lb/>
&#x017F;tig, als daß eine Danae (von der man ohnehin keine<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ve&#x017F;tali-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[221/0243] Agathon. Sechstes Buch. Erſtes Capitel. Ein Beſuch des Hippias. Zufaͤllige Urſachen hatten es ſo gefuͤget, daß Hippias ſich auf einiche Wochen von Smirna hatte entfer- nen muͤſſen, und daß die Zeit ſeiner Abweſenheit gerade in diejenige Zeit, worinn die Liebe unſers Hel- den und der ſchoͤnen Danae den aͤuſſerſten Punkt ihrer Hoͤhe erreichte. Dieſer Umſtand hatte ſie gaͤnzlich Mei- ſter von einer Zeit gelaſſen, welche ſie zum Vortheil der Liebe und des Vergnuͤgens ſo wohl anzuwenden wußten. Keiner von Danaes ehemaligen Verehrern hatte ſich erkuͤhnt, ihre Einſamkeit zu ſtoͤren; und die Freundinnen, mit denen ſie ehmals in Geſellſchaft geſtan- den war, hatten zu gutem Gluͤk alle mit ihren eignen Angelegenheiten ſo viel zu thun, daß ſie keine Zeit be- hielten, ſich um Fremde zu bekuͤmmern. Zudem war ihr Aufenthalt auf dem Lande nichts ungewoͤhnliches, und der allgemeine Genius der Stadt Smirna war der Freyheit in der Wahl der Vergnuͤgungen allzuguͤn- ſtig, als daß eine Danae (von der man ohnehin keine veſtali-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/243
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/243>, abgerufen am 21.11.2024.