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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Fünftes Buch, eilftes Capitel.
Thränen gerührt werden -- oder wenn sie ihren
Geliebten unter einer schattichten Laube schlafend fand,
ganze Stunden, unbeweglich, in zärtliches Staunen
und in den Genuß ihrer Empfindungen versenkt, neben
ihm sizen konnte, ohne daran zu denken, ihn durch ei-
nen eigennüzigen Kuß aufzuweken, -- daß diese Schüle-
rin des Hippias, welche gewohnt gewesen war, nichts
lächerlichers zu finden, als die Hofnung der Unsterb-
lichkeit, und diese süssen Träume von bessern Welten,
in welche sich empfindliche Seelen so gerne zu wiegen
pflegen -- daß sie izt, beym dämmernden Schein
des Monds, an Agathons Seite auf Blumen hinge-
gossen, schon entkörpert zu seyn, schon in den seligen
Thälern des Elysiums zu schweben glaubte -- mit-
ten aus den berauschenden Freuden der Liebe sich zu
Gedanken von Gräbern und Urnen verliehren, dann
ihren Geliebteu zärtlicher an ihre Brust drükend den
gestirnten Himmel anschauen, und ganze Stunden von
der Wonne der Unsterblichen, von unvergänglichen
Schönheiten und himmlischen Welten phantasieren konn-
te, und, von den Wünschen ihrer grenzenlosen Liebe
getäuscht, in der Hofnung einer immerwährenden Dauer
izt so wenig Ausschweifendes fand, daß ihr kein Ge-
danke natürlicher, keine Hofnung gewisser schien; die-
ses waren in der That Wunderwerke der Liebe, und
Wunderwerke, welche nur die Liebe eines Agathons,
nur jene Vermischung der Seelen, durch welche ihrer
beyder Denkungsart, Jdeen, Geschmak und Neigun-
gen in einander zerflossen, zuwege bringen konnte.

Welches

Fuͤnftes Buch, eilftes Capitel.
Thraͤnen geruͤhrt werden — oder wenn ſie ihren
Geliebten unter einer ſchattichten Laube ſchlafend fand,
ganze Stunden, unbeweglich, in zaͤrtliches Staunen
und in den Genuß ihrer Empfindungen verſenkt, neben
ihm ſizen konnte, ohne daran zu denken, ihn durch ei-
nen eigennuͤzigen Kuß aufzuweken, — daß dieſe Schuͤle-
rin des Hippias, welche gewohnt geweſen war, nichts
laͤcherlichers zu finden, als die Hofnung der Unſterb-
lichkeit, und dieſe ſuͤſſen Traͤume von beſſern Welten,
in welche ſich empfindliche Seelen ſo gerne zu wiegen
pflegen — daß ſie izt, beym daͤmmernden Schein
des Monds, an Agathons Seite auf Blumen hinge-
goſſen, ſchon entkoͤrpert zu ſeyn, ſchon in den ſeligen
Thaͤlern des Elyſiums zu ſchweben glaubte — mit-
ten aus den berauſchenden Freuden der Liebe ſich zu
Gedanken von Graͤbern und Urnen verliehren, dann
ihren Geliebteu zaͤrtlicher an ihre Bruſt druͤkend den
geſtirnten Himmel anſchauen, und ganze Stunden von
der Wonne der Unſterblichen, von unvergaͤnglichen
Schoͤnheiten und himmliſchen Welten phantaſieren konn-
te, und, von den Wuͤnſchen ihrer grenzenloſen Liebe
getaͤuſcht, in der Hofnung einer immerwaͤhrenden Dauer
izt ſo wenig Ausſchweifendes fand, daß ihr kein Ge-
danke natuͤrlicher, keine Hofnung gewiſſer ſchien; die-
ſes waren in der That Wunderwerke der Liebe, und
Wunderwerke, welche nur die Liebe eines Agathons,
nur jene Vermiſchung der Seelen, durch welche ihrer
beyder Denkungsart, Jdeen, Geſchmak und Neigun-
gen in einander zerfloſſen, zuwege bringen konnte.

Welches
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[219/0241] Fuͤnftes Buch, eilftes Capitel. Thraͤnen geruͤhrt werden — oder wenn ſie ihren Geliebten unter einer ſchattichten Laube ſchlafend fand, ganze Stunden, unbeweglich, in zaͤrtliches Staunen und in den Genuß ihrer Empfindungen verſenkt, neben ihm ſizen konnte, ohne daran zu denken, ihn durch ei- nen eigennuͤzigen Kuß aufzuweken, — daß dieſe Schuͤle- rin des Hippias, welche gewohnt geweſen war, nichts laͤcherlichers zu finden, als die Hofnung der Unſterb- lichkeit, und dieſe ſuͤſſen Traͤume von beſſern Welten, in welche ſich empfindliche Seelen ſo gerne zu wiegen pflegen — daß ſie izt, beym daͤmmernden Schein des Monds, an Agathons Seite auf Blumen hinge- goſſen, ſchon entkoͤrpert zu ſeyn, ſchon in den ſeligen Thaͤlern des Elyſiums zu ſchweben glaubte — mit- ten aus den berauſchenden Freuden der Liebe ſich zu Gedanken von Graͤbern und Urnen verliehren, dann ihren Geliebteu zaͤrtlicher an ihre Bruſt druͤkend den geſtirnten Himmel anſchauen, und ganze Stunden von der Wonne der Unſterblichen, von unvergaͤnglichen Schoͤnheiten und himmliſchen Welten phantaſieren konn- te, und, von den Wuͤnſchen ihrer grenzenloſen Liebe getaͤuſcht, in der Hofnung einer immerwaͤhrenden Dauer izt ſo wenig Ausſchweifendes fand, daß ihr kein Ge- danke natuͤrlicher, keine Hofnung gewiſſer ſchien; die- ſes waren in der That Wunderwerke der Liebe, und Wunderwerke, welche nur die Liebe eines Agathons, nur jene Vermiſchung der Seelen, durch welche ihrer beyder Denkungsart, Jdeen, Geſchmak und Neigun- gen in einander zerfloſſen, zuwege bringen konnte. Welches

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/241>, abgerufen am 28.03.2024.