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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
sich eine Vorstellung zu machen jemals verliebt genug
gewesen sind, zu küssen, ohne daß sie daran erwacht
wäre; daß er hierauf noch weniger als zuvor sich
entschliessen können, so unbemerkt als er gekommen,
sich wieder hinwegzuschleichen; und kurz, daß die kleine
Psyche, die Tänzerin, welche seit der Pantomime, man
weiß nicht warum, gar nicht seine Freundin war,
mit ihren Augen gesehen haben wollte, daß er eine
zimliche Weile nach Anbruch des Tages, allein, und
mit einer Mine, aus welcher sich sehr vieles habe schlies-
sen lassen, aus dem Pavillion hinter die Myrthenheken
sich weggestohlen habe.

Neuntes Capitel.
Nachrichten zu Verhütung eines besorgli-
chen Mißverstandes.

Die Tugend (pflegt man dem Horaz nachzusagen) ist
die Mittelstrasse zwischen zween Abwegen, welche beyde
gleich sorgfältig zu vermeiden sind. Es ist ohne Zwei-
fel wol gethan, wenn ein Schriftsteller, der sich einen
wichtigern Zwek als die blosse Ergözung seiner Leser
vorgesezt hat, bey gewissen Anläsen, anstatt des zaum-
losen Muthwillens vieler von den neuern Franzosen,
lieber die bescheidne Zurükhaltung des jungfräulichen
Virgils nachahmet, welcher bey einer Gelegenheit, wo

die

Agathon.
ſich eine Vorſtellung zu machen jemals verliebt genug
geweſen ſind, zu kuͤſſen, ohne daß ſie daran erwacht
waͤre; daß er hierauf noch weniger als zuvor ſich
entſchlieſſen koͤnnen, ſo unbemerkt als er gekommen,
ſich wieder hinwegzuſchleichen; und kurz, daß die kleine
Pſyche, die Taͤnzerin, welche ſeit der Pantomime, man
weiß nicht warum, gar nicht ſeine Freundin war,
mit ihren Augen geſehen haben wollte, daß er eine
zimliche Weile nach Anbruch des Tages, allein, und
mit einer Mine, aus welcher ſich ſehr vieles habe ſchlieſ-
ſen laſſen, aus dem Pavillion hinter die Myrthenheken
ſich weggeſtohlen habe.

Neuntes Capitel.
Nachrichten zu Verhuͤtung eines beſorgli-
chen Mißverſtandes.

Die Tugend (pflegt man dem Horaz nachzuſagen) iſt
die Mittelſtraſſe zwiſchen zween Abwegen, welche beyde
gleich ſorgfaͤltig zu vermeiden ſind. Es iſt ohne Zwei-
fel wol gethan, wenn ein Schriftſteller, der ſich einen
wichtigern Zwek als die bloſſe Ergoͤzung ſeiner Leſer
vorgeſezt hat, bey gewiſſen Anlaͤſen, anſtatt des zaum-
loſen Muthwillens vieler von den neuern Franzoſen,
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Virgils nachahmet, welcher bey einer Gelegenheit, wo

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[204/0226] Agathon. ſich eine Vorſtellung zu machen jemals verliebt genug geweſen ſind, zu kuͤſſen, ohne daß ſie daran erwacht waͤre; daß er hierauf noch weniger als zuvor ſich entſchlieſſen koͤnnen, ſo unbemerkt als er gekommen, ſich wieder hinwegzuſchleichen; und kurz, daß die kleine Pſyche, die Taͤnzerin, welche ſeit der Pantomime, man weiß nicht warum, gar nicht ſeine Freundin war, mit ihren Augen geſehen haben wollte, daß er eine zimliche Weile nach Anbruch des Tages, allein, und mit einer Mine, aus welcher ſich ſehr vieles habe ſchlieſ- ſen laſſen, aus dem Pavillion hinter die Myrthenheken ſich weggeſtohlen habe. Neuntes Capitel. Nachrichten zu Verhuͤtung eines beſorgli- chen Mißverſtandes. Die Tugend (pflegt man dem Horaz nachzuſagen) iſt die Mittelſtraſſe zwiſchen zween Abwegen, welche beyde gleich ſorgfaͤltig zu vermeiden ſind. Es iſt ohne Zwei- fel wol gethan, wenn ein Schriftſteller, der ſich einen wichtigern Zwek als die bloſſe Ergoͤzung ſeiner Leſer vorgeſezt hat, bey gewiſſen Anlaͤſen, anſtatt des zaum- loſen Muthwillens vieler von den neuern Franzoſen, lieber die beſcheidne Zuruͤkhaltung des jungfraͤulichen Virgils nachahmet, welcher bey einer Gelegenheit, wo die

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/226>, abgerufen am 29.03.2024.