Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Fünftes Buch, achtes Capitel.
vielleicht weniger intereßirt, eine sich selbst ganz ver-
gessende Großmuth und eine Tapferkeit, die von nichts
erzittert, zu vergöttern? Je vollkommener andre sind,
desto weniger haben wir nöthig es zu seyn; und je hö-
her sie ihre Tugend treiben, desto weniger haben wir
bey unsern Lastern zu besorgen.

Der Himmel verhüte, daß unsre Absicht jemals
sey, in schönen Seelen diese liebenswürdige Schwär-
merey für die Tugend abzuschreken, welche ihnen so na-
türlich und öfters die Quelle der lobenswürdigsten Hand-
lungen ist. Alles was wir mit diesen Bemerkungen ab-
zielen, ist allein, daß die romanhaften Helden, von
denen die Rede ist, noch weniger in dem Bezirke der
Natur zu suchen seyen als die geflügelten Löwen und
die Fische mit Mädchenleibern; daß es moralische Gro-
tesken seyen, welche eine müßige Einbildungskraft aus-
brütet, und ein verdorbner moralischer Sinn, nach Art
gewisser Jndianer, destomehr vergöttert, je weiter ihre
verhältnißwürdige Mißgestalt von der menschlichen Na-
tur sich entfernet, welche doch, mit allen ihren Män-
geln, das beste, liebenswürdigste und vollkommenste
Wesen ist, das wir würklich kennen -- und daß
also der Held unsrer Geschichte, durch die Verände-
rungen und Schwachheiten, denen wir ihn unterworfen
sehen, zwar allerdings, wir gestehen es, weniger ein
Held, aber destomehr ein Mensch, und also desto ge-
schikter sey, uns durch seine Erfahrungen, und selbst
durch seine Fehler zu belehren.

Wir
N 5

Fuͤnftes Buch, achtes Capitel.
vielleicht weniger intereßirt, eine ſich ſelbſt ganz ver-
geſſende Großmuth und eine Tapferkeit, die von nichts
erzittert, zu vergoͤttern? Je vollkommener andre ſind,
deſto weniger haben wir noͤthig es zu ſeyn; und je hoͤ-
her ſie ihre Tugend treiben, deſto weniger haben wir
bey unſern Laſtern zu beſorgen.

Der Himmel verhuͤte, daß unſre Abſicht jemals
ſey, in ſchoͤnen Seelen dieſe liebenswuͤrdige Schwaͤr-
merey fuͤr die Tugend abzuſchreken, welche ihnen ſo na-
tuͤrlich und oͤfters die Quelle der lobenswuͤrdigſten Hand-
lungen iſt. Alles was wir mit dieſen Bemerkungen ab-
zielen, iſt allein, daß die romanhaften Helden, von
denen die Rede iſt, noch weniger in dem Bezirke der
Natur zu ſuchen ſeyen als die gefluͤgelten Loͤwen und
die Fiſche mit Maͤdchenleibern; daß es moraliſche Gro-
tesken ſeyen, welche eine muͤßige Einbildungskraft aus-
bruͤtet, und ein verdorbner moraliſcher Sinn, nach Art
gewiſſer Jndianer, deſtomehr vergoͤttert, je weiter ihre
verhaͤltnißwuͤrdige Mißgeſtalt von der menſchlichen Na-
tur ſich entfernet, welche doch, mit allen ihren Maͤn-
geln, das beſte, liebenswuͤrdigſte und vollkommenſte
Weſen iſt, das wir wuͤrklich kennen — und daß
alſo der Held unſrer Geſchichte, durch die Veraͤnde-
rungen und Schwachheiten, denen wir ihn unterworfen
ſehen, zwar allerdings, wir geſtehen es, weniger ein
Held, aber deſtomehr ein Menſch, und alſo deſto ge-
ſchikter ſey, uns durch ſeine Erfahrungen, und ſelbſt
durch ſeine Fehler zu belehren.

Wir
N 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0223" n="201"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Fu&#x0364;nftes Buch, achtes Capitel.</hi></fw><lb/>
vielleicht weniger intereßirt, eine &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t ganz ver-<lb/>
ge&#x017F;&#x017F;ende Großmuth und eine Tapferkeit, die von nichts<lb/>
erzittert, zu vergo&#x0364;ttern? Je vollkommener andre &#x017F;ind,<lb/>
de&#x017F;to weniger haben wir no&#x0364;thig es zu &#x017F;eyn; und je ho&#x0364;-<lb/>
her &#x017F;ie ihre Tugend treiben, de&#x017F;to weniger haben wir<lb/>
bey un&#x017F;ern La&#x017F;tern zu be&#x017F;orgen.</p><lb/>
            <p>Der Himmel verhu&#x0364;te, daß un&#x017F;re Ab&#x017F;icht jemals<lb/>
&#x017F;ey, in &#x017F;cho&#x0364;nen Seelen die&#x017F;e liebenswu&#x0364;rdige Schwa&#x0364;r-<lb/>
merey fu&#x0364;r die Tugend abzu&#x017F;chreken, welche ihnen &#x017F;o na-<lb/>
tu&#x0364;rlich und o&#x0364;fters die Quelle der lobenswu&#x0364;rdig&#x017F;ten Hand-<lb/>
lungen i&#x017F;t. Alles was wir mit die&#x017F;en Bemerkungen ab-<lb/>
zielen, i&#x017F;t allein, daß die romanhaften Helden, von<lb/>
denen die Rede i&#x017F;t, noch weniger in dem Bezirke der<lb/>
Natur zu &#x017F;uchen &#x017F;eyen als die geflu&#x0364;gelten Lo&#x0364;wen und<lb/>
die Fi&#x017F;che mit Ma&#x0364;dchenleibern; daß es morali&#x017F;che Gro-<lb/>
tesken &#x017F;eyen, welche eine mu&#x0364;ßige Einbildungskraft aus-<lb/>
bru&#x0364;tet, und ein verdorbner morali&#x017F;cher Sinn, nach Art<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;er Jndianer, de&#x017F;tomehr vergo&#x0364;ttert, je weiter ihre<lb/>
verha&#x0364;ltnißwu&#x0364;rdige Mißge&#x017F;talt von der men&#x017F;chlichen Na-<lb/>
tur &#x017F;ich entfernet, welche doch, mit allen ihren Ma&#x0364;n-<lb/>
geln, das be&#x017F;te, liebenswu&#x0364;rdig&#x017F;te und vollkommen&#x017F;te<lb/>
We&#x017F;en i&#x017F;t, das wir wu&#x0364;rklich kennen &#x2014; und daß<lb/>
al&#x017F;o der Held un&#x017F;rer Ge&#x017F;chichte, durch die Vera&#x0364;nde-<lb/>
rungen und Schwachheiten, denen wir ihn unterworfen<lb/>
&#x017F;ehen, zwar allerdings, wir ge&#x017F;tehen es, weniger ein<lb/>
Held, aber de&#x017F;tomehr ein Men&#x017F;ch, und al&#x017F;o de&#x017F;to ge-<lb/>
&#x017F;chikter &#x017F;ey, uns durch &#x017F;eine Erfahrungen, und &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
durch &#x017F;eine Fehler zu belehren.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">N 5</fw>
            <fw place="bottom" type="catch">Wir</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[201/0223] Fuͤnftes Buch, achtes Capitel. vielleicht weniger intereßirt, eine ſich ſelbſt ganz ver- geſſende Großmuth und eine Tapferkeit, die von nichts erzittert, zu vergoͤttern? Je vollkommener andre ſind, deſto weniger haben wir noͤthig es zu ſeyn; und je hoͤ- her ſie ihre Tugend treiben, deſto weniger haben wir bey unſern Laſtern zu beſorgen. Der Himmel verhuͤte, daß unſre Abſicht jemals ſey, in ſchoͤnen Seelen dieſe liebenswuͤrdige Schwaͤr- merey fuͤr die Tugend abzuſchreken, welche ihnen ſo na- tuͤrlich und oͤfters die Quelle der lobenswuͤrdigſten Hand- lungen iſt. Alles was wir mit dieſen Bemerkungen ab- zielen, iſt allein, daß die romanhaften Helden, von denen die Rede iſt, noch weniger in dem Bezirke der Natur zu ſuchen ſeyen als die gefluͤgelten Loͤwen und die Fiſche mit Maͤdchenleibern; daß es moraliſche Gro- tesken ſeyen, welche eine muͤßige Einbildungskraft aus- bruͤtet, und ein verdorbner moraliſcher Sinn, nach Art gewiſſer Jndianer, deſtomehr vergoͤttert, je weiter ihre verhaͤltnißwuͤrdige Mißgeſtalt von der menſchlichen Na- tur ſich entfernet, welche doch, mit allen ihren Maͤn- geln, das beſte, liebenswuͤrdigſte und vollkommenſte Weſen iſt, das wir wuͤrklich kennen — und daß alſo der Held unſrer Geſchichte, durch die Veraͤnde- rungen und Schwachheiten, denen wir ihn unterworfen ſehen, zwar allerdings, wir geſtehen es, weniger ein Held, aber deſtomehr ein Menſch, und alſo deſto ge- ſchikter ſey, uns durch ſeine Erfahrungen, und ſelbſt durch ſeine Fehler zu belehren. Wir N 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/223
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/223>, abgerufen am 21.11.2024.