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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Viertes Buch, zweytes Capitel.
gen Ungenannten übertroffen werde. Jn der That
war ihr Ruhm von dieser Seite so festgesezt, daß man
das Gerücht nicht unwahrscheinlich fand, welches ver-
sicherte, daß sie in ihrer ersten Jugend den berühmte-
sten Mahlern zum Modell gedient habe; und daß sie
bey einer solchen Gelegenheit den Nahmen erhalten, un-
ter welchem sie in Jonien berühmt war. Jzo hatte sie
zwar das dreißigste Jahr schon zurükgelegt, allein ihre
Schönheit hatte dadurch mehr gewonnen als verloh-
ren; und der blendende Jugendglanz, der mit dem
May des Lebens zu verschwinden pflegt, wurde durch
tausend andre Reizungen ersezt, welche ihr, nach dem
Urtheil der Kenner, eine gewisse Anziehungskraft ga-
ben, die man, ohne sich eines schwülstigen Ausdruks
schuldig zu machen, in gewissen Umständen für unwi-
derstehlich halten konnte. Dem ungeachtet scheute sich,
unter der Aegide der Gleichgültigkeit, worinn ihn
damals ordentlicher Weise auch die schönsten Figuren
zulassen pflegten, der weise Hippias nicht, seine Tugend
öfters dieser Gefahr auszusezen. Er war der schönen
Danae unter dem Titel eines Freundes vorzüglich ange-
nehm, und die geheime Geschichte sagt so gar, daß sie
ihn ehmals nicht unwürdig gefunden, ihm eine Zeitlang
eine noch interessantere Stelle, bey ihrer Person anzu-
vertrauen; eine Stelle die nur von den liebenswür-
digsten seines Geschlechts bekleidet zu werden pflegte.
Diese Dame war es, deren Beyhülfe Hippias sich zu
Ausführung seines Anschlags wider den Agathon bedie-
nen wollte, dessen schwärmerische Tugend, seinen Ge-

danken
J 5

Viertes Buch, zweytes Capitel.
gen Ungenannten uͤbertroffen werde. Jn der That
war ihr Ruhm von dieſer Seite ſo feſtgeſezt, daß man
das Geruͤcht nicht unwahrſcheinlich fand, welches ver-
ſicherte, daß ſie in ihrer erſten Jugend den beruͤhmte-
ſten Mahlern zum Modell gedient habe; und daß ſie
bey einer ſolchen Gelegenheit den Nahmen erhalten, un-
ter welchem ſie in Jonien beruͤhmt war. Jzo hatte ſie
zwar das dreißigſte Jahr ſchon zuruͤkgelegt, allein ihre
Schoͤnheit hatte dadurch mehr gewonnen als verloh-
ren; und der blendende Jugendglanz, der mit dem
May des Lebens zu verſchwinden pflegt, wurde durch
tauſend andre Reizungen erſezt, welche ihr, nach dem
Urtheil der Kenner, eine gewiſſe Anziehungskraft ga-
ben, die man, ohne ſich eines ſchwuͤlſtigen Ausdruks
ſchuldig zu machen, in gewiſſen Umſtaͤnden fuͤr unwi-
derſtehlich halten konnte. Dem ungeachtet ſcheute ſich,
unter der Aegide der Gleichguͤltigkeit, worinn ihn
damals ordentlicher Weiſe auch die ſchoͤnſten Figuren
zulaſſen pflegten, der weiſe Hippias nicht, ſeine Tugend
oͤfters dieſer Gefahr auszuſezen. Er war der ſchoͤnen
Danae unter dem Titel eines Freundes vorzuͤglich ange-
nehm, und die geheime Geſchichte ſagt ſo gar, daß ſie
ihn ehmals nicht unwuͤrdig gefunden, ihm eine Zeitlang
eine noch intereſſantere Stelle, bey ihrer Perſon anzu-
vertrauen; eine Stelle die nur von den liebenswuͤr-
digſten ſeines Geſchlechts bekleidet zu werden pflegte.
Dieſe Dame war es, deren Beyhuͤlfe Hippias ſich zu
Ausfuͤhrung ſeines Anſchlags wider den Agathon bedie-
nen wollte, deſſen ſchwaͤrmeriſche Tugend, ſeinen Ge-

danken
J 5
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[137/0159] Viertes Buch, zweytes Capitel. gen Ungenannten uͤbertroffen werde. Jn der That war ihr Ruhm von dieſer Seite ſo feſtgeſezt, daß man das Geruͤcht nicht unwahrſcheinlich fand, welches ver- ſicherte, daß ſie in ihrer erſten Jugend den beruͤhmte- ſten Mahlern zum Modell gedient habe; und daß ſie bey einer ſolchen Gelegenheit den Nahmen erhalten, un- ter welchem ſie in Jonien beruͤhmt war. Jzo hatte ſie zwar das dreißigſte Jahr ſchon zuruͤkgelegt, allein ihre Schoͤnheit hatte dadurch mehr gewonnen als verloh- ren; und der blendende Jugendglanz, der mit dem May des Lebens zu verſchwinden pflegt, wurde durch tauſend andre Reizungen erſezt, welche ihr, nach dem Urtheil der Kenner, eine gewiſſe Anziehungskraft ga- ben, die man, ohne ſich eines ſchwuͤlſtigen Ausdruks ſchuldig zu machen, in gewiſſen Umſtaͤnden fuͤr unwi- derſtehlich halten konnte. Dem ungeachtet ſcheute ſich, unter der Aegide der Gleichguͤltigkeit, worinn ihn damals ordentlicher Weiſe auch die ſchoͤnſten Figuren zulaſſen pflegten, der weiſe Hippias nicht, ſeine Tugend oͤfters dieſer Gefahr auszuſezen. Er war der ſchoͤnen Danae unter dem Titel eines Freundes vorzuͤglich ange- nehm, und die geheime Geſchichte ſagt ſo gar, daß ſie ihn ehmals nicht unwuͤrdig gefunden, ihm eine Zeitlang eine noch intereſſantere Stelle, bey ihrer Perſon anzu- vertrauen; eine Stelle die nur von den liebenswuͤr- digſten ſeines Geſchlechts bekleidet zu werden pflegte. Dieſe Dame war es, deren Beyhuͤlfe Hippias ſich zu Ausfuͤhrung ſeines Anſchlags wider den Agathon bedie- nen wollte, deſſen ſchwaͤrmeriſche Tugend, ſeinen Ge- danken J 5

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/159>, abgerufen am 18.04.2024.