Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
könnte, seine Leidenschaft zu vergnügen, ohne sich mit
den Gesezen abzuwerfen? Jch sehe, du kennest die Da-
men zu Athen und Sparta nicht." O! was das be-
trift, ich kenne so gar die Priesterinnen zu Delphi.
Aber ists möglich, daß du im Ernste gesprochen hast?
"Jch habe nach meinen Grundsäzen gesprochen. Die
Geseze haben in gewissen Staaten, (denn es giebt ei-
nige, wo sie mehr Nachsicht haben) nöthig gefunden,
unser natürliches Recht an eine jede, die unsre Begier-
den erregt, einzuschränken. Allein da dieses nur ge-
schah, um gewisse Ungelegenheiten zu verhindern, die
aus dem ungescheuten Gebrauch jenes Rechts in sol-
chen Staaten zu besorgen wären, so stehst du, daß der
Geist und die Absicht des Gesezes nicht verlezt wird,
wenn man vorsichtig genug ist zu den Ausnahmen die
man davon macht keine Zeugen zu nehmen", O
Hippias! rief Agathon hier aus, ich habe dich, wohin
ich dich bringen wollte. Du siehest die Folgen deiner
Grundsäze. Wenn alles an sich selbst recht ist, was
meine Begierden wollen; wenn die ausschweifenden
Forderungen der Leidenschaft unter dem Nahmen
des Nüzlichen, den sie nicht verdienen, die einzige
Richtschnur unsrer Handlungen sind; wenn die Geseze
nur mit einer guten Art ausgewichen werden müssen,
und im Dunkeln alles erlaubt ist; wenn die Tugend,
und die Hofnungen der Tugend nur Schimären sind;
was hindert die Kinder, sich wider ihre Eltern zu ver-
schwöhren? Was hindert die Mutter, sich selbst und
ihre Tochter dem meistbietenden Preiß zu geben? Was

hindert

Agathon.
koͤnnte, ſeine Leidenſchaft zu vergnuͤgen, ohne ſich mit
den Geſezen abzuwerfen? Jch ſehe, du kenneſt die Da-
men zu Athen und Sparta nicht.„ O! was das be-
trift, ich kenne ſo gar die Prieſterinnen zu Delphi.
Aber iſts moͤglich, daß du im Ernſte geſprochen haſt?
„Jch habe nach meinen Grundſaͤzen geſprochen. Die
Geſeze haben in gewiſſen Staaten, (denn es giebt ei-
nige, wo ſie mehr Nachſicht haben) noͤthig gefunden,
unſer natuͤrliches Recht an eine jede, die unſre Begier-
den erregt, einzuſchraͤnken. Allein da dieſes nur ge-
ſchah, um gewiſſe Ungelegenheiten zu verhindern, die
aus dem ungeſcheuten Gebrauch jenes Rechts in ſol-
chen Staaten zu beſorgen waͤren, ſo ſtehſt du, daß der
Geiſt und die Abſicht des Geſezes nicht verlezt wird,
wenn man vorſichtig genug iſt zu den Ausnahmen die
man davon macht keine Zeugen zu nehmen„, O
Hippias! rief Agathon hier aus, ich habe dich, wohin
ich dich bringen wollte. Du ſieheſt die Folgen deiner
Grundſaͤze. Wenn alles an ſich ſelbſt recht iſt, was
meine Begierden wollen; wenn die ausſchweifenden
Forderungen der Leidenſchaft unter dem Nahmen
des Nuͤzlichen, den ſie nicht verdienen, die einzige
Richtſchnur unſrer Handlungen ſind; wenn die Geſeze
nur mit einer guten Art ausgewichen werden muͤſſen,
und im Dunkeln alles erlaubt iſt; wenn die Tugend,
und die Hofnungen der Tugend nur Schimaͤren ſind;
was hindert die Kinder, ſich wider ihre Eltern zu ver-
ſchwoͤhren? Was hindert die Mutter, ſich ſelbſt und
ihre Tochter dem meiſtbietenden Preiß zu geben? Was

hindert
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0150" n="128"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
ko&#x0364;nnte, &#x017F;eine Leiden&#x017F;chaft zu vergnu&#x0364;gen, ohne &#x017F;ich mit<lb/>
den Ge&#x017F;ezen abzuwerfen? Jch &#x017F;ehe, du kenne&#x017F;t die Da-<lb/>
men zu Athen und Sparta nicht.&#x201E; O! was das be-<lb/>
trift, ich kenne &#x017F;o gar die Prie&#x017F;terinnen zu Delphi.<lb/>
Aber i&#x017F;ts mo&#x0364;glich, daß du im Ern&#x017F;te ge&#x017F;prochen ha&#x017F;t?<lb/>
&#x201E;Jch habe nach meinen Grund&#x017F;a&#x0364;zen ge&#x017F;prochen. Die<lb/>
Ge&#x017F;eze haben in gewi&#x017F;&#x017F;en Staaten, (denn es giebt ei-<lb/>
nige, wo &#x017F;ie mehr Nach&#x017F;icht haben) no&#x0364;thig gefunden,<lb/>
un&#x017F;er natu&#x0364;rliches Recht an eine jede, die un&#x017F;re Begier-<lb/>
den erregt, einzu&#x017F;chra&#x0364;nken. Allein da die&#x017F;es nur ge-<lb/>
&#x017F;chah, um gewi&#x017F;&#x017F;e Ungelegenheiten zu verhindern, die<lb/>
aus dem unge&#x017F;cheuten Gebrauch jenes Rechts in &#x017F;ol-<lb/>
chen Staaten zu be&#x017F;orgen wa&#x0364;ren, &#x017F;o &#x017F;teh&#x017F;t du, daß der<lb/>
Gei&#x017F;t und die Ab&#x017F;icht des Ge&#x017F;ezes nicht verlezt wird,<lb/>
wenn man vor&#x017F;ichtig genug i&#x017F;t zu den Ausnahmen die<lb/>
man davon macht keine Zeugen zu nehmen&#x201E;, O<lb/>
Hippias! rief Agathon hier aus, ich habe dich, wohin<lb/>
ich dich bringen wollte. Du &#x017F;iehe&#x017F;t die Folgen deiner<lb/>
Grund&#x017F;a&#x0364;ze. Wenn alles an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t recht i&#x017F;t, was<lb/>
meine Begierden wollen; wenn die aus&#x017F;chweifenden<lb/>
Forderungen der Leiden&#x017F;chaft unter dem Nahmen<lb/>
des Nu&#x0364;zlichen, den &#x017F;ie nicht verdienen, die einzige<lb/>
Richt&#x017F;chnur un&#x017F;rer Handlungen &#x017F;ind; wenn die Ge&#x017F;eze<lb/>
nur mit einer guten Art ausgewichen werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
und im Dunkeln alles erlaubt i&#x017F;t; wenn die Tugend,<lb/>
und die Hofnungen der Tugend nur Schima&#x0364;ren &#x017F;ind;<lb/>
was hindert die Kinder, &#x017F;ich wider ihre Eltern zu ver-<lb/>
&#x017F;chwo&#x0364;hren? Was hindert die Mutter, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t und<lb/>
ihre Tochter dem mei&#x017F;tbietenden Preiß zu geben? Was<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">hindert</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[128/0150] Agathon. koͤnnte, ſeine Leidenſchaft zu vergnuͤgen, ohne ſich mit den Geſezen abzuwerfen? Jch ſehe, du kenneſt die Da- men zu Athen und Sparta nicht.„ O! was das be- trift, ich kenne ſo gar die Prieſterinnen zu Delphi. Aber iſts moͤglich, daß du im Ernſte geſprochen haſt? „Jch habe nach meinen Grundſaͤzen geſprochen. Die Geſeze haben in gewiſſen Staaten, (denn es giebt ei- nige, wo ſie mehr Nachſicht haben) noͤthig gefunden, unſer natuͤrliches Recht an eine jede, die unſre Begier- den erregt, einzuſchraͤnken. Allein da dieſes nur ge- ſchah, um gewiſſe Ungelegenheiten zu verhindern, die aus dem ungeſcheuten Gebrauch jenes Rechts in ſol- chen Staaten zu beſorgen waͤren, ſo ſtehſt du, daß der Geiſt und die Abſicht des Geſezes nicht verlezt wird, wenn man vorſichtig genug iſt zu den Ausnahmen die man davon macht keine Zeugen zu nehmen„, O Hippias! rief Agathon hier aus, ich habe dich, wohin ich dich bringen wollte. Du ſieheſt die Folgen deiner Grundſaͤze. Wenn alles an ſich ſelbſt recht iſt, was meine Begierden wollen; wenn die ausſchweifenden Forderungen der Leidenſchaft unter dem Nahmen des Nuͤzlichen, den ſie nicht verdienen, die einzige Richtſchnur unſrer Handlungen ſind; wenn die Geſeze nur mit einer guten Art ausgewichen werden muͤſſen, und im Dunkeln alles erlaubt iſt; wenn die Tugend, und die Hofnungen der Tugend nur Schimaͤren ſind; was hindert die Kinder, ſich wider ihre Eltern zu ver- ſchwoͤhren? Was hindert die Mutter, ſich ſelbſt und ihre Tochter dem meiſtbietenden Preiß zu geben? Was hindert

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/150
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/150>, abgerufen am 22.11.2024.