Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Agathon, nicht, daß der Weg, den du mir vorgezeichnet hast,zu der Glükseligkeit würklich führe, deren Vorzüge vor meiner Art glüklich zu seyn, du in ein so helles Licht gesezt. Dem ungeachtet empfinde ich nicht die mindeste Lust so glüklich zu seyn, und wenn ich mich anders recht kenne, so werde ich schwerlich eher ein Sophist werden, biß du deine Tänzerinnen entlässest, dein Haus zu ei- nem öffentlichen Tempel der Diana widmest, und nach Jndien ziehst, ein Bramine zu werden. Hippias lachte über diese Antwort, ohne daß sie ihm desto besser gefiel. Und was hast du gegen mein System einzuwenden? fragte er. Daß es mich nicht überzeugt, erwiederte Agathon. "Und warum nicht?" Weil meine Erfah- rung und Empfindung deinen Schlüssen widerspricht. "Jch möchte wohl wissen, was dieses für Erfahrungen und Empfindungen sind, die demjenigen widersprechen, was alle Welt erfährt und empfindt." Du würdest be- weisen, daß es Schimären sind. "Und wenn ich es bewiesen hätte?" Du würdest es nur dir beweisen, Hippias; du würdest nichts beweisen, als daß du nicht Callias bist. "Aber die Frage ist, ob Hippias oder Cal- lias richtig denkt?" Wer soll Richter seyn? "Das ganze menschliche Geschlecht." Was würde das wider mich beweisen? "Sehr viel. Wenn zehen Millionen Menschen urtheilen, daß zween oder drey aus ihrem Mittel Narren sind, so sind sie es; das ist unläugbar." Aber wie, wenn die zehen Millionen, deren Ausspruch dir so entscheidend vorkommt, zehn Millionen Tho- ren wären, und die drey wären klug? "Wie müste das
Agathon, nicht, daß der Weg, den du mir vorgezeichnet haſt,zu der Gluͤkſeligkeit wuͤrklich fuͤhre, deren Vorzuͤge vor meiner Art gluͤklich zu ſeyn, du in ein ſo helles Licht geſezt. Dem ungeachtet empfinde ich nicht die mindeſte Luſt ſo gluͤklich zu ſeyn, und wenn ich mich anders recht kenne, ſo werde ich ſchwerlich eher ein Sophiſt werden, biß du deine Taͤnzerinnen entlaͤſſeſt, dein Haus zu ei- nem oͤffentlichen Tempel der Diana widmeſt, und nach Jndien ziehſt, ein Bramine zu werden. Hippias lachte uͤber dieſe Antwort, ohne daß ſie ihm deſto beſſer gefiel. Und was haſt du gegen mein Syſtem einzuwenden? fragte er. Daß es mich nicht uͤberzeugt, erwiederte Agathon. „Und warum nicht?„ Weil meine Erfah- rung und Empfindung deinen Schluͤſſen widerſpricht. „Jch moͤchte wohl wiſſen, was dieſes fuͤr Erfahrungen und Empfindungen ſind, die demjenigen widerſprechen, was alle Welt erfaͤhrt und empfindt.„ Du wuͤrdeſt be- weiſen, daß es Schimaͤren ſind. „Und wenn ich es bewieſen haͤtte?„ Du wuͤrdeſt es nur dir beweiſen, Hippias; du wuͤrdeſt nichts beweiſen, als daß du nicht Callias biſt. „Aber die Frage iſt, ob Hippias oder Cal- lias richtig denkt?„ Wer ſoll Richter ſeyn? „Das ganze menſchliche Geſchlecht.„ Was wuͤrde das wider mich beweiſen? „Sehr viel. Wenn zehen Millionen Menſchen urtheilen, daß zween oder drey aus ihrem Mittel Narren ſind, ſo ſind ſie es; das iſt unlaͤugbar.„ Aber wie, wenn die zehen Millionen, deren Ausſpruch dir ſo entſcheidend vorkommt, zehn Millionen Tho- ren waͤren, und die drey waͤren klug? „Wie muͤſte das
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0146" n="124"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon,</hi></hi></fw><lb/> nicht, daß der Weg, den du mir vorgezeichnet haſt,<lb/> zu der Gluͤkſeligkeit wuͤrklich fuͤhre, deren Vorzuͤge vor<lb/> meiner Art gluͤklich zu ſeyn, du in ein ſo helles Licht<lb/> geſezt. Dem ungeachtet empfinde ich nicht die mindeſte<lb/> Luſt ſo gluͤklich zu ſeyn, und wenn ich mich anders recht<lb/> kenne, ſo werde ich ſchwerlich eher ein Sophiſt werden,<lb/> biß du deine Taͤnzerinnen entlaͤſſeſt, dein Haus zu ei-<lb/> nem oͤffentlichen Tempel der Diana widmeſt, und nach<lb/> Jndien ziehſt, ein Bramine zu werden. Hippias lachte<lb/> uͤber dieſe Antwort, ohne daß ſie ihm deſto beſſer gefiel.<lb/> Und was haſt du gegen mein Syſtem einzuwenden?<lb/> fragte er. Daß es mich nicht uͤberzeugt, erwiederte<lb/> Agathon. „Und warum nicht?„ Weil meine Erfah-<lb/> rung und Empfindung deinen Schluͤſſen widerſpricht.<lb/> „Jch moͤchte wohl wiſſen, was dieſes fuͤr Erfahrungen<lb/> und Empfindungen ſind, die demjenigen widerſprechen,<lb/> was alle Welt erfaͤhrt und empfindt.„ Du wuͤrdeſt be-<lb/> weiſen, daß es Schimaͤren ſind. „Und wenn ich es<lb/> bewieſen haͤtte?„ Du wuͤrdeſt es nur dir beweiſen,<lb/> Hippias; du wuͤrdeſt nichts beweiſen, als daß du nicht<lb/> Callias biſt. „Aber die Frage iſt, ob Hippias oder Cal-<lb/> lias richtig denkt?„ Wer ſoll Richter ſeyn? „Das<lb/> ganze menſchliche Geſchlecht.„ Was wuͤrde das wider<lb/> mich beweiſen? „Sehr viel. Wenn zehen Millionen<lb/> Menſchen urtheilen, daß zween oder drey aus ihrem<lb/> Mittel Narren ſind, ſo ſind ſie es; das iſt unlaͤugbar.„<lb/> Aber wie, wenn die zehen Millionen, deren Ausſpruch<lb/> dir ſo entſcheidend vorkommt, zehn Millionen Tho-<lb/> ren waͤren, und die drey waͤren klug? „Wie muͤſte<lb/> <fw place="bottom" type="catch">das</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [124/0146]
Agathon,
nicht, daß der Weg, den du mir vorgezeichnet haſt,
zu der Gluͤkſeligkeit wuͤrklich fuͤhre, deren Vorzuͤge vor
meiner Art gluͤklich zu ſeyn, du in ein ſo helles Licht
geſezt. Dem ungeachtet empfinde ich nicht die mindeſte
Luſt ſo gluͤklich zu ſeyn, und wenn ich mich anders recht
kenne, ſo werde ich ſchwerlich eher ein Sophiſt werden,
biß du deine Taͤnzerinnen entlaͤſſeſt, dein Haus zu ei-
nem oͤffentlichen Tempel der Diana widmeſt, und nach
Jndien ziehſt, ein Bramine zu werden. Hippias lachte
uͤber dieſe Antwort, ohne daß ſie ihm deſto beſſer gefiel.
Und was haſt du gegen mein Syſtem einzuwenden?
fragte er. Daß es mich nicht uͤberzeugt, erwiederte
Agathon. „Und warum nicht?„ Weil meine Erfah-
rung und Empfindung deinen Schluͤſſen widerſpricht.
„Jch moͤchte wohl wiſſen, was dieſes fuͤr Erfahrungen
und Empfindungen ſind, die demjenigen widerſprechen,
was alle Welt erfaͤhrt und empfindt.„ Du wuͤrdeſt be-
weiſen, daß es Schimaͤren ſind. „Und wenn ich es
bewieſen haͤtte?„ Du wuͤrdeſt es nur dir beweiſen,
Hippias; du wuͤrdeſt nichts beweiſen, als daß du nicht
Callias biſt. „Aber die Frage iſt, ob Hippias oder Cal-
lias richtig denkt?„ Wer ſoll Richter ſeyn? „Das
ganze menſchliche Geſchlecht.„ Was wuͤrde das wider
mich beweiſen? „Sehr viel. Wenn zehen Millionen
Menſchen urtheilen, daß zween oder drey aus ihrem
Mittel Narren ſind, ſo ſind ſie es; das iſt unlaͤugbar.„
Aber wie, wenn die zehen Millionen, deren Ausſpruch
dir ſo entſcheidend vorkommt, zehn Millionen Tho-
ren waͤren, und die drey waͤren klug? „Wie muͤſte
das
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |