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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
chen Maschinen; beyde sezen sie einer unendlichen Men-
ge von Uebeln aus, die es nur in einer betrognen Ein-
bildung, aber eben darum wo nicht schmerzlicher doch
anhaltender und unheilbarer sind, als diejenigen die uns
die Natur auferlegt. Diese Art von Menschen ist kei-
nes gesezten und anhaltenden Vergnügens, keines Zu-
standes von Glükseligkeit fähig; ihre Freuden sind Au-
genblike, und ihre übrige Dauer ist entweder ein würk-
liches Leiden, oder ein unaufhörliches Gefühl verworr-
ner Wünsche, eine immerwährende Ebbe- und Fluth
von Furcht und Hofnung, von Phantasien und Ge-
lüsten; kurz eine unruhige Bewegung die weder ein ge-
wisses Maas noch ein festes Ziel hat, und also weder
ein Mittel zur Erhaltung dessen was gut ist seyn kann,
noch dasjenige geniessen läßt, was man würklich be-
sizt. Es scheint also unmöglich zu seyn, ohne eine ge-
wisse Zärtlichkeit der Empfindung, die uns in einer
weitern Sphäre, mit feinern Sinnen und auf eine an-
genehmere Art geniessen läßt, und ohne diejenige Stär-
ke der Seele, die uns fähig macht das Joch der Phan-
tasie und des Wahns abzuschütteln, und die Leiden-
schaften in unsrer Gewalt zu haben, zu demjenigen ru-
higen Zustande von Genuß und Zufriedenheit zu kom-
men, der die Glükseligkeit ausmacht. Nur derjenige
ist in der That glüklich, der sich von den Uebeln die
nur in der Einbildung bestehen, gänzlich frey zu ma-
chen; diejenigen aber, denen die Natur den Menschen
unterworfen hat, entweder zu vermeiden, oder doch zu
vermindern -- und das Gefühl derselben einzuschläfern,

hin-

Agathon.
chen Maſchinen; beyde ſezen ſie einer unendlichen Men-
ge von Uebeln aus, die es nur in einer betrognen Ein-
bildung, aber eben darum wo nicht ſchmerzlicher doch
anhaltender und unheilbarer ſind, als diejenigen die uns
die Natur auferlegt. Dieſe Art von Menſchen iſt kei-
nes geſezten und anhaltenden Vergnuͤgens, keines Zu-
ſtandes von Gluͤkſeligkeit faͤhig; ihre Freuden ſind Au-
genblike, und ihre uͤbrige Dauer iſt entweder ein wuͤrk-
liches Leiden, oder ein unaufhoͤrliches Gefuͤhl verworr-
ner Wuͤnſche, eine immerwaͤhrende Ebbe- und Fluth
von Furcht und Hofnung, von Phantaſien und Ge-
luͤſten; kurz eine unruhige Bewegung die weder ein ge-
wiſſes Maas noch ein feſtes Ziel hat, und alſo weder
ein Mittel zur Erhaltung deſſen was gut iſt ſeyn kann,
noch dasjenige genieſſen laͤßt, was man wuͤrklich be-
ſizt. Es ſcheint alſo unmoͤglich zu ſeyn, ohne eine ge-
wiſſe Zaͤrtlichkeit der Empfindung, die uns in einer
weitern Sphaͤre, mit feinern Sinnen und auf eine an-
genehmere Art genieſſen laͤßt, und ohne diejenige Staͤr-
ke der Seele, die uns faͤhig macht das Joch der Phan-
taſie und des Wahns abzuſchuͤtteln, und die Leiden-
ſchaften in unſrer Gewalt zu haben, zu demjenigen ru-
higen Zuſtande von Genuß und Zufriedenheit zu kom-
men, der die Gluͤkſeligkeit ausmacht. Nur derjenige
iſt in der That gluͤklich, der ſich von den Uebeln die
nur in der Einbildung beſtehen, gaͤnzlich frey zu ma-
chen; diejenigen aber, denen die Natur den Menſchen
unterworfen hat, entweder zu vermeiden, oder doch zu
vermindern ‒‒ und das Gefuͤhl derſelben einzuſchlaͤfern,

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[80/0102] Agathon. chen Maſchinen; beyde ſezen ſie einer unendlichen Men- ge von Uebeln aus, die es nur in einer betrognen Ein- bildung, aber eben darum wo nicht ſchmerzlicher doch anhaltender und unheilbarer ſind, als diejenigen die uns die Natur auferlegt. Dieſe Art von Menſchen iſt kei- nes geſezten und anhaltenden Vergnuͤgens, keines Zu- ſtandes von Gluͤkſeligkeit faͤhig; ihre Freuden ſind Au- genblike, und ihre uͤbrige Dauer iſt entweder ein wuͤrk- liches Leiden, oder ein unaufhoͤrliches Gefuͤhl verworr- ner Wuͤnſche, eine immerwaͤhrende Ebbe- und Fluth von Furcht und Hofnung, von Phantaſien und Ge- luͤſten; kurz eine unruhige Bewegung die weder ein ge- wiſſes Maas noch ein feſtes Ziel hat, und alſo weder ein Mittel zur Erhaltung deſſen was gut iſt ſeyn kann, noch dasjenige genieſſen laͤßt, was man wuͤrklich be- ſizt. Es ſcheint alſo unmoͤglich zu ſeyn, ohne eine ge- wiſſe Zaͤrtlichkeit der Empfindung, die uns in einer weitern Sphaͤre, mit feinern Sinnen und auf eine an- genehmere Art genieſſen laͤßt, und ohne diejenige Staͤr- ke der Seele, die uns faͤhig macht das Joch der Phan- taſie und des Wahns abzuſchuͤtteln, und die Leiden- ſchaften in unſrer Gewalt zu haben, zu demjenigen ru- higen Zuſtande von Genuß und Zufriedenheit zu kom- men, der die Gluͤkſeligkeit ausmacht. Nur derjenige iſt in der That gluͤklich, der ſich von den Uebeln die nur in der Einbildung beſtehen, gaͤnzlich frey zu ma- chen; diejenigen aber, denen die Natur den Menſchen unterworfen hat, entweder zu vermeiden, oder doch zu vermindern ‒‒ und das Gefuͤhl derſelben einzuſchlaͤfern, hin-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/102>, abgerufen am 26.04.2024.