Der ehrliche treuherzige Magister Me- dardus war gegenwärtig der Besitzer dieser einsamen ländlichen Wohnung -- ein Mann, der alle Menschen Brüder nennte und als Brüder behandelte, der ärmste und doch der freygebigste gastfreyeste Seelenhirte des ganzen Landes, der mit Unglück und Gefah- ren gekämpft hatte und noch täglich von ih- nen herausgefodert wurde, sieben lebendige Kinder besaß und eine Vorsehung glaubte.
Zween Unglückliche bedürfen keiner Mit- telsperson, in Bekanntschaft oder Vertraulich- keit zu gerathen: bey dem guten Medardus war sie noch viel weniger nöthig. Ein Krug voll Apfelwein, das sein täglicher und lieb- ster Trank war, vertrat die Stelle derselben und wurde häufig unter beiden gewechselt; Belphegor klagte und jammerte dabey über den Neid und die Unterdrückung der Men- schen, und Medardus ermahnte ihn, mit der Welt zufrieden zu seyn, so lange es noch Apfelwein und eine Vorsicht gebe.
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Der ehrliche treuherzige Magiſter Me- dardus war gegenwaͤrtig der Beſitzer dieſer einſamen laͤndlichen Wohnung — ein Mann, der alle Menſchen Bruͤder nennte und als Bruͤder behandelte, der aͤrmſte und doch der freygebigſte gaſtfreyeſte Seelenhirte des ganzen Landes, der mit Ungluͤck und Gefah- ren gekaͤmpft hatte und noch taͤglich von ih- nen herausgefodert wurde, ſieben lebendige Kinder beſaß und eine Vorſehung glaubte.
Zween Ungluͤckliche beduͤrfen keiner Mit- telsperſon, in Bekanntſchaft oder Vertraulich- keit zu gerathen: bey dem guten Medardus war ſie noch viel weniger noͤthig. Ein Krug voll Apfelwein, das ſein taͤglicher und lieb- ſter Trank war, vertrat die Stelle derſelben und wurde haͤufig unter beiden gewechſelt; Belphegor klagte und jammerte dabey uͤber den Neid und die Unterdruͤckung der Men- ſchen, und Medardus ermahnte ihn, mit der Welt zufrieden zu ſeyn, ſo lange es noch Apfelwein und eine Vorſicht gebe.
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[[57]/0077]
Der ehrliche treuherzige Magiſter Me-
dardus war gegenwaͤrtig der Beſitzer
dieſer einſamen laͤndlichen Wohnung — ein
Mann, der alle Menſchen Bruͤder nennte und
als Bruͤder behandelte, der aͤrmſte und doch
der freygebigſte gaſtfreyeſte Seelenhirte des
ganzen Landes, der mit Ungluͤck und Gefah-
ren gekaͤmpft hatte und noch taͤglich von ih-
nen herausgefodert wurde, ſieben lebendige
Kinder beſaß und eine Vorſehung glaubte.
Zween Ungluͤckliche beduͤrfen keiner Mit-
telsperſon, in Bekanntſchaft oder Vertraulich-
keit zu gerathen: bey dem guten Medardus
war ſie noch viel weniger noͤthig. Ein Krug
voll Apfelwein, das ſein taͤglicher und lieb-
ſter Trank war, vertrat die Stelle derſelben
und wurde haͤufig unter beiden gewechſelt;
Belphegor klagte und jammerte dabey uͤber
den Neid und die Unterdruͤckung der Men-
ſchen, und Medardus ermahnte ihn, mit der
Welt zufrieden zu ſeyn, ſo lange es noch
Apfelwein und eine Vorſicht gebe.
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Wezel, Johann Carl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. [57]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wezel_belphegor01_1776/77>, abgerufen am 03.05.2024.
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