Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

die durch den Sprachgebrauch willkürlich abgegrenzten Seelen-
functionen: die Grossmut, die Anhänglichkeit, die Kindesliebe,
den Geschlechtssinn etc. eben so willkürlich einzelne Territorien
auf der Grosshirnrinde absteckten, sondern nur die elementarsten
psychischen Functionen können auf bestimmte Stellen der Gross-
hirnrinde verwiesen werden, z. B. eine Gesichtswahrnehmung an
den centralen Ausbreitungsbezirk des Opticus, ein Geruchseindruck
an den des Olfactorius, eine Tastempfindung des kleinen Fingers
an das centrale Ende des Ulnaris etc. Die Grosshirnoberfläche ist
ein Mosaik derartiger einfachster Elemente, welche durch ihre
anatomische Verbindung mit der Körperperipherie characterisirt
sind. Alles was über diese einfachsten Functionen hinausgeht,
die Verknüpfung verschiedener Eindrücke zu einem Begriffe, das
Denken, das Bewusstsein, ist eine Leistung der Fasermassen, welche
die verschiedenen Stellen der Grosshirnrinde unter einander ver-
knüpfen, der von Meynert sogenannten Associationssysteme. Wie
weit diese complicirteren Leistungen schon jetzt für unsere Einsicht
zugänglich sind, werden wir später sehen.

Die Sinneseindrücke, welche in die Grosshirnrinde von
der Aussenwelt projicirt werden, haben eine längere Dauer
als der von aussen auf das Sinnesorgan wirkende Reiz;
sie vermögen als Erinnerungsbilder, allerdings in
abgeblasster Form, wieder aufzutauchen,
unabhängig
von dem Reize, der sie erzeugte. Darin scheint zunächst ein
specifischer Unterschied zwischen dem Ablauf der Nervenerregung
in der Grosshirnrinde und in anderen nervösen Bahnen und Stationen
zu bestehen; in den letzteren scheint es ja, als ob mit dem Ab-
lauf des einmaligen Erregungsvorganges auch jede weitere Spur
davon verwischt wäre.

Es lässt sich aber leicht zeigen, dass eine dem ganzen Ner-
vensysteme inne wohnende Eigenschaft ein gewisses Gedächtniss,
ist. Dasselbe lässt sich erfahrungsgemäss dahin formuliren, dass
die Widerstände, welche eine gewisse Bahn für die Nervenerregung
bietet, durch öftere Benützung derselben verringert werden. So
kommen reflectorische Bewegungen am leichtesten zu Stande auf
schon oft benützten Bahnen und in der Form, welche am häufig-
sten ausgeübt wurde. Ferner beruht darauf die Einübung ge-
wisser Bewegungen, wie beim Klavierspielen, das Erlernen distincter
Gehörseindrücke, z. B. beim Anhören einer Symphonie. Wenn
Jemand durch einen Stoss oder Fall auf den Kopf Epilepsie

die durch den Sprachgebrauch willkürlich abgegrenzten Seelen-
functionen: die Grossmut, die Anhänglichkeit, die Kindesliebe,
den Geschlechtssinn etc. eben so willkürlich einzelne Territorien
auf der Grosshirnrinde absteckten, sondern nur die elementarsten
psychischen Functionen können auf bestimmte Stellen der Gross-
hirnrinde verwiesen werden, z. B. eine Gesichtswahrnehmung an
den centralen Ausbreitungsbezirk des Opticus, ein Geruchseindruck
an den des Olfactorius, eine Tastempfindung des kleinen Fingers
an das centrale Ende des Ulnaris etc. Die Grosshirnoberfläche ist
ein Mosaik derartiger einfachster Elemente, welche durch ihre
anatomische Verbindung mit der Körperperipherie characterisirt
sind. Alles was über diese einfachsten Functionen hinausgeht,
die Verknüpfung verschiedener Eindrücke zu einem Begriffe, das
Denken, das Bewusstsein, ist eine Leistung der Fasermassen, welche
die verschiedenen Stellen der Grosshirnrinde unter einander ver-
knüpfen, der von Meynert sogenannten Associationssysteme. Wie
weit diese complicirteren Leistungen schon jetzt für unsere Einsicht
zugänglich sind, werden wir später sehen.

Die Sinneseindrücke, welche in die Grosshirnrinde von
der Aussenwelt projicirt werden, haben eine längere Dauer
als der von aussen auf das Sinnesorgan wirkende Reiz;
sie vermögen als Erinnerungsbilder, allerdings in
abgeblasster Form, wieder aufzutauchen,
unabhängig
von dem Reize, der sie erzeugte. Darin scheint zunächst ein
specifischer Unterschied zwischen dem Ablauf der Nervenerregung
in der Grosshirnrinde und in anderen nervösen Bahnen und Stationen
zu bestehen; in den letzteren scheint es ja, als ob mit dem Ab-
lauf des einmaligen Erregungsvorganges auch jede weitere Spur
davon verwischt wäre.

Es lässt sich aber leicht zeigen, dass eine dem ganzen Ner-
vensysteme inne wohnende Eigenschaft ein gewisses Gedächtniss,
ist. Dasselbe lässt sich erfahrungsgemäss dahin formuliren, dass
die Widerstände, welche eine gewisse Bahn für die Nervenerregung
bietet, durch öftere Benützung derselben verringert werden. So
kommen reflectorische Bewegungen am leichtesten zu Stande auf
schon oft benützten Bahnen und in der Form, welche am häufig-
sten ausgeübt wurde. Ferner beruht darauf die Einübung ge-
wisser Bewegungen, wie beim Klavierspielen, das Erlernen distincter
Gehörseindrücke, z. B. beim Anhören einer Symphonie. Wenn
Jemand durch einen Stoss oder Fall auf den Kopf Epilepsie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0008" n="4"/>
die durch den Sprachgebrauch willkürlich abgegrenzten Seelen-<lb/>
functionen: die Grossmut, die Anhänglichkeit, die Kindesliebe,<lb/>
den Geschlechtssinn etc. eben so willkürlich einzelne Territorien<lb/>
auf der Grosshirnrinde absteckten, sondern nur die elementarsten<lb/>
psychischen Functionen können auf bestimmte Stellen der Gross-<lb/>
hirnrinde verwiesen werden, z. B. eine Gesichtswahrnehmung an<lb/>
den centralen Ausbreitungsbezirk des Opticus, ein Geruchseindruck<lb/>
an den des Olfactorius, eine Tastempfindung des kleinen Fingers<lb/>
an das centrale Ende des Ulnaris etc. Die Grosshirnoberfläche ist<lb/>
ein Mosaik derartiger einfachster Elemente, welche durch ihre<lb/>
anatomische Verbindung mit der Körperperipherie characterisirt<lb/>
sind. Alles was über diese einfachsten Functionen hinausgeht,<lb/>
die Verknüpfung verschiedener Eindrücke zu einem Begriffe, das<lb/>
Denken, das Bewusstsein, ist eine Leistung der Fasermassen, welche<lb/>
die verschiedenen Stellen der Grosshirnrinde unter einander ver-<lb/>
knüpfen, der von Meynert sogenannten Associationssysteme. Wie<lb/>
weit diese complicirteren Leistungen schon jetzt für unsere Einsicht<lb/>
zugänglich sind, werden wir später sehen.</p><lb/>
          <p>Die <hi rendition="#g">Sinneseindrücke,</hi> welche in die Grosshirnrinde von<lb/>
der Aussenwelt projicirt werden, <hi rendition="#g">haben eine längere Dauer<lb/>
als der von aussen auf das Sinnesorgan wirkende Reiz;<lb/>
sie vermögen als Erinnerungsbilder, allerdings in<lb/>
abgeblasster Form, wieder aufzutauchen,</hi> unabhängig<lb/>
von dem Reize, der sie erzeugte. Darin scheint zunächst ein<lb/>
specifischer Unterschied zwischen dem Ablauf der Nervenerregung<lb/>
in der Grosshirnrinde und in anderen nervösen Bahnen und Stationen<lb/>
zu bestehen; in den letzteren scheint es ja, als ob mit dem Ab-<lb/>
lauf des einmaligen Erregungsvorganges auch jede weitere Spur<lb/>
davon verwischt wäre.</p><lb/>
          <p>Es lässt sich aber leicht zeigen, dass eine dem ganzen Ner-<lb/>
vensysteme inne wohnende Eigenschaft ein gewisses Gedächtniss,<lb/>
ist. Dasselbe lässt sich erfahrungsgemäss dahin formuliren, dass<lb/>
die Widerstände, welche eine gewisse Bahn für die Nervenerregung<lb/>
bietet, durch öftere Benützung derselben verringert werden. So<lb/>
kommen reflectorische Bewegungen am leichtesten zu Stande auf<lb/>
schon oft benützten Bahnen und in der Form, welche am häufig-<lb/>
sten ausgeübt wurde. Ferner beruht darauf die Einübung ge-<lb/>
wisser Bewegungen, wie beim Klavierspielen, das Erlernen distincter<lb/>
Gehörseindrücke, z. B. beim Anhören einer Symphonie. Wenn<lb/>
Jemand durch einen Stoss oder Fall auf den Kopf Epilepsie<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0008] die durch den Sprachgebrauch willkürlich abgegrenzten Seelen- functionen: die Grossmut, die Anhänglichkeit, die Kindesliebe, den Geschlechtssinn etc. eben so willkürlich einzelne Territorien auf der Grosshirnrinde absteckten, sondern nur die elementarsten psychischen Functionen können auf bestimmte Stellen der Gross- hirnrinde verwiesen werden, z. B. eine Gesichtswahrnehmung an den centralen Ausbreitungsbezirk des Opticus, ein Geruchseindruck an den des Olfactorius, eine Tastempfindung des kleinen Fingers an das centrale Ende des Ulnaris etc. Die Grosshirnoberfläche ist ein Mosaik derartiger einfachster Elemente, welche durch ihre anatomische Verbindung mit der Körperperipherie characterisirt sind. Alles was über diese einfachsten Functionen hinausgeht, die Verknüpfung verschiedener Eindrücke zu einem Begriffe, das Denken, das Bewusstsein, ist eine Leistung der Fasermassen, welche die verschiedenen Stellen der Grosshirnrinde unter einander ver- knüpfen, der von Meynert sogenannten Associationssysteme. Wie weit diese complicirteren Leistungen schon jetzt für unsere Einsicht zugänglich sind, werden wir später sehen. Die Sinneseindrücke, welche in die Grosshirnrinde von der Aussenwelt projicirt werden, haben eine längere Dauer als der von aussen auf das Sinnesorgan wirkende Reiz; sie vermögen als Erinnerungsbilder, allerdings in abgeblasster Form, wieder aufzutauchen, unabhängig von dem Reize, der sie erzeugte. Darin scheint zunächst ein specifischer Unterschied zwischen dem Ablauf der Nervenerregung in der Grosshirnrinde und in anderen nervösen Bahnen und Stationen zu bestehen; in den letzteren scheint es ja, als ob mit dem Ab- lauf des einmaligen Erregungsvorganges auch jede weitere Spur davon verwischt wäre. Es lässt sich aber leicht zeigen, dass eine dem ganzen Ner- vensysteme inne wohnende Eigenschaft ein gewisses Gedächtniss, ist. Dasselbe lässt sich erfahrungsgemäss dahin formuliren, dass die Widerstände, welche eine gewisse Bahn für die Nervenerregung bietet, durch öftere Benützung derselben verringert werden. So kommen reflectorische Bewegungen am leichtesten zu Stande auf schon oft benützten Bahnen und in der Form, welche am häufig- sten ausgeübt wurde. Ferner beruht darauf die Einübung ge- wisser Bewegungen, wie beim Klavierspielen, das Erlernen distincter Gehörseindrücke, z. B. beim Anhören einer Symphonie. Wenn Jemand durch einen Stoss oder Fall auf den Kopf Epilepsie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/8
Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/8>, abgerufen am 29.03.2024.