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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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der übrigen Schläfewindungen. Die klinischen Symptome sprachen
für eine Aphasie der Inselgegend, diese aber kann kaum zur Er-
klärung zugezogen werden, wenn die Stammganglien normal fun-
girten, denn Stammganglien und Inselrinde litten unter derselben
Compression.

Andererseits ist die Aphasie nicht von ihrer Entstehung an
genügend beobachtet worden, sie kann weit früheren Datums sein
und damals die Symptome der sensorischen Aphasie geboten
haben; in der Zwischenzeit kann die andere Hemisphäre die
Function des linken Schläppelappens übernommen haben, was ja
bei sensorischer Aphasie sehr schnell geschieht. Es giebt aber
bei Heilung der sensorischen Aphasie ein Stadium, in welchem
die Kranken schon das Meiste verstehen und doch noch Wörter
verwechseln.

Keinesfalls kann aus diesem Falle ein Beweis für oder gegen
die von mir angenommene Localisation der Sprachcentren gemacht
werden. Der Hirnabscess, welcher wie der Tumor seine Druck-
wirkung auf verschiedene Stellen des Schädelinhaltes nach uns
noch gänzlich unbekannten Gesetzen ausübt, kann eine derartige
Frage nicht entscheiden. Nur der Erweichungsheerd ver-
spricht uns Aufschlüsse über die localisirten Func-
tionen des Gehirnes.

Unerklärt ist ferner die Lähmung des rechten Mund-Facialis;
wenn sie auf die partielle Zerstörung der linken motorischen Gan-
glien zu beziehen ist, so müsste die zerstörte, oben näher be-
zeichnete Partie den Kern des Mund-Facialis enthalten.

Die Hyperaesthesie der Unterextremitäten erschwerte wäh-
rend des Lebens die Diagnose. Sie fand in der circumscripten
Meningitis spinalis eine einfache Erklärung.



Hier finde ich den Ort, meinen lieben Collegen im Hospitale
Friedländer und Weigert für ihre freundschaftliche Unterstützung
und die bereitwillige Ueberlassung ihres Materiales meinen herz-
lichsten Dank auszusprechen.



Ich bin weit entfernt, zu meinen, mit dem Vorstehenden
durchweg neue Ansichten über das Wesen der Aphasie ausge-
sprochen zu haben. Aehnliche psychologische und philosophische
Deductionen begegnen uns in den meisten bedeutenderen Autoren
über Aphasie, namentlich hat Baginsky in seiner Eintheilung der

der übrigen Schläfewindungen. Die klinischen Symptome sprachen
für eine Aphasie der Inselgegend, diese aber kann kaum zur Er-
klärung zugezogen werden, wenn die Stammganglien normal fun-
girten, denn Stammganglien und Inselrinde litten unter derselben
Compression.

Andererseits ist die Aphasie nicht von ihrer Entstehung an
genügend beobachtet worden, sie kann weit früheren Datums sein
und damals die Symptome der sensorischen Aphasie geboten
haben; in der Zwischenzeit kann die andere Hemisphäre die
Function des linken Schläppelappens übernommen haben, was ja
bei sensorischer Aphasie sehr schnell geschieht. Es giebt aber
bei Heilung der sensorischen Aphasie ein Stadium, in welchem
die Kranken schon das Meiste verstehen und doch noch Wörter
verwechseln.

Keinesfalls kann aus diesem Falle ein Beweis für oder gegen
die von mir angenommene Localisation der Sprachcentren gemacht
werden. Der Hirnabscess, welcher wie der Tumor seine Druck-
wirkung auf verschiedene Stellen des Schädelinhaltes nach uns
noch gänzlich unbekannten Gesetzen ausübt, kann eine derartige
Frage nicht entscheiden. Nur der Erweichungsheerd ver-
spricht uns Aufschlüsse über die localisirten Func-
tionen des Gehirnes.

Unerklärt ist ferner die Lähmung des rechten Mund-Facialis;
wenn sie auf die partielle Zerstörung der linken motorischen Gan-
glien zu beziehen ist, so müsste die zerstörte, oben näher be-
zeichnete Partie den Kern des Mund-Facialis enthalten.

Die Hyperaesthesie der Unterextremitäten erschwerte wäh-
rend des Lebens die Diagnose. Sie fand in der circumscripten
Meningitis spinalis eine einfache Erklärung.



Hier finde ich den Ort, meinen lieben Collegen im Hospitale
Friedländer und Weigert für ihre freundschaftliche Unterstützung
und die bereitwillige Ueberlassung ihres Materiales meinen herz-
lichsten Dank auszusprechen.



Ich bin weit entfernt, zu meinen, mit dem Vorstehenden
durchweg neue Ansichten über das Wesen der Aphasie ausge-
sprochen zu haben. Aehnliche psychologische und philosophische
Deductionen begegnen uns in den meisten bedeutenderen Autoren
über Aphasie, namentlich hat Baginsky in seiner Eintheilung der

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[67/0071] der übrigen Schläfewindungen. Die klinischen Symptome sprachen für eine Aphasie der Inselgegend, diese aber kann kaum zur Er- klärung zugezogen werden, wenn die Stammganglien normal fun- girten, denn Stammganglien und Inselrinde litten unter derselben Compression. Andererseits ist die Aphasie nicht von ihrer Entstehung an genügend beobachtet worden, sie kann weit früheren Datums sein und damals die Symptome der sensorischen Aphasie geboten haben; in der Zwischenzeit kann die andere Hemisphäre die Function des linken Schläppelappens übernommen haben, was ja bei sensorischer Aphasie sehr schnell geschieht. Es giebt aber bei Heilung der sensorischen Aphasie ein Stadium, in welchem die Kranken schon das Meiste verstehen und doch noch Wörter verwechseln. Keinesfalls kann aus diesem Falle ein Beweis für oder gegen die von mir angenommene Localisation der Sprachcentren gemacht werden. Der Hirnabscess, welcher wie der Tumor seine Druck- wirkung auf verschiedene Stellen des Schädelinhaltes nach uns noch gänzlich unbekannten Gesetzen ausübt, kann eine derartige Frage nicht entscheiden. Nur der Erweichungsheerd ver- spricht uns Aufschlüsse über die localisirten Func- tionen des Gehirnes. Unerklärt ist ferner die Lähmung des rechten Mund-Facialis; wenn sie auf die partielle Zerstörung der linken motorischen Gan- glien zu beziehen ist, so müsste die zerstörte, oben näher be- zeichnete Partie den Kern des Mund-Facialis enthalten. Die Hyperaesthesie der Unterextremitäten erschwerte wäh- rend des Lebens die Diagnose. Sie fand in der circumscripten Meningitis spinalis eine einfache Erklärung. Hier finde ich den Ort, meinen lieben Collegen im Hospitale Friedländer und Weigert für ihre freundschaftliche Unterstützung und die bereitwillige Ueberlassung ihres Materiales meinen herz- lichsten Dank auszusprechen. Ich bin weit entfernt, zu meinen, mit dem Vorstehenden durchweg neue Ansichten über das Wesen der Aphasie ausge- sprochen zu haben. Aehnliche psychologische und philosophische Deductionen begegnen uns in den meisten bedeutenderen Autoren über Aphasie, namentlich hat Baginsky in seiner Eintheilung der

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/71>, abgerufen am 27.04.2024.