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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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normaler Weise der Mensch sprechen; fehlt ihm diese Bahn, so
bleibt er stumm, so sehr er sich auch sonst geistig entwickeln
mag. Bei den pathologischen Veränderungen der Sprache ist durch-
aus auf diese normale Entwickelungsweise derselben Rücksicht zu
nehmen.

Wie verhält es sich aber mit denjenigen Taubstummen, bei
welchen es durch einen höchst complicirten besonderen Unterricht
dennoch gelingt, eine articulirte und tönende Sprache zu erzielen?
Sie beweisen nur, dass directe Verbindungen der optischen und
Tastsinnesgebiete mit dem Orte der Sprachbewegungsvorstellungen
existiren, und dass sie eventuell hinreichen können, um den
normalen Sprachvorgang zu ermöglichen. Die Thatsache, dass bei
gänzlichem Verluste der Klangbilder dennoch Vieles, und zwar
mitunter ganze Sätze, richtig gesprochen werden kann, liesse sich
auch auf keine andere Weise erklären. Dennoch verhält es sich
bei den Taubstummen, die durch geeigneten Unterricht leidlich
sprechen lernen, noch ganz anders. Bei ihnen fungiren, statt der
acustischen, die optischen und Tastsinnesbilder als Anfangsglieder
des psychischen Reflexbogens. Ist einmal ein solcher Taubstummer
im sicheren Besitze seiner Sprechfähigkeit, so kann es auch ihm

[Abbildung] Fig. 6.
begegnen, dass er aphasisch
wird, und er wird, je nach
dem Sitze des Processes, an
motorischer, sensorischer und
Leitungsaphasie leiden können.
Aber nur bei der motorischen
Aphasie des Taubstummen lässt
sich der Sitz des Processes in
dieselbe Region des Stirnhirnes
verlegen, welche nachgewiesener Massen beim normalen Menschen
betroffen ist. Bei der sensorischen Aphasie müssen c und d, die Tast-
und optischen Bilder, erloschen sein, deren anatomische Lage noch nicht
genügend bekannt, aber sicher mit der I. Schläfewindung nicht iden-
tisch ist. Bei der Leitungsaphasie endlich müssen die Faserzüge unter-
brochen sein, welche die Stirnlappen mit dem Hinterhauptsschläfe-
lappen im Mark der Hemisphäre verbinden, besonders das Bogen-
bündel Burdach's. Es wäre müssig, die Symptome dieser 3 Formen
bei Taubstummen weiter auszumalen. Nur ist hervorzuheben,
dass Taubstumme mit sensorischer Aphasie auch nothwendig immer

normaler Weise der Mensch sprechen; fehlt ihm diese Bahn, so
bleibt er stumm, so sehr er sich auch sonst geistig entwickeln
mag. Bei den pathologischen Veränderungen der Sprache ist durch-
aus auf diese normale Entwickelungsweise derselben Rücksicht zu
nehmen.

Wie verhält es sich aber mit denjenigen Taubstummen, bei
welchen es durch einen höchst complicirten besonderen Unterricht
dennoch gelingt, eine articulirte und tönende Sprache zu erzielen?
Sie beweisen nur, dass directe Verbindungen der optischen und
Tastsinnesgebiete mit dem Orte der Sprachbewegungsvorstellungen
existiren, und dass sie eventuell hinreichen können, um den
normalen Sprachvorgang zu ermöglichen. Die Thatsache, dass bei
gänzlichem Verluste der Klangbilder dennoch Vieles, und zwar
mitunter ganze Sätze, richtig gesprochen werden kann, liesse sich
auch auf keine andere Weise erklären. Dennoch verhält es sich
bei den Taubstummen, die durch geeigneten Unterricht leidlich
sprechen lernen, noch ganz anders. Bei ihnen fungiren, statt der
acustischen, die optischen und Tastsinnesbilder als Anfangsglieder
des psychischen Reflexbogens. Ist einmal ein solcher Taubstummer
im sicheren Besitze seiner Sprechfähigkeit, so kann es auch ihm

[Abbildung] Fig. 6.
begegnen, dass er aphasisch
wird, und er wird, je nach
dem Sitze des Processes, an
motorischer, sensorischer und
Leitungsaphasie leiden können.
Aber nur bei der motorischen
Aphasie des Taubstummen lässt
sich der Sitz des Processes in
dieselbe Region des Stirnhirnes
verlegen, welche nachgewiesener Massen beim normalen Menschen
betroffen ist. Bei der sensorischen Aphasie müssen c und d, die Tast-
und optischen Bilder, erloschen sein, deren anatomische Lage noch nicht
genügend bekannt, aber sicher mit der I. Schläfewindung nicht iden-
tisch ist. Bei der Leitungsaphasie endlich müssen die Faserzüge unter-
brochen sein, welche die Stirnlappen mit dem Hinterhauptsschläfe-
lappen im Mark der Hemisphäre verbinden, besonders das Bogen-
bündel Burdach’s. Es wäre müssig, die Symptome dieser 3 Formen
bei Taubstummen weiter auszumalen. Nur ist hervorzuheben,
dass Taubstumme mit sensorischer Aphasie auch nothwendig immer

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[34/0038] normaler Weise der Mensch sprechen; fehlt ihm diese Bahn, so bleibt er stumm, so sehr er sich auch sonst geistig entwickeln mag. Bei den pathologischen Veränderungen der Sprache ist durch- aus auf diese normale Entwickelungsweise derselben Rücksicht zu nehmen. Wie verhält es sich aber mit denjenigen Taubstummen, bei welchen es durch einen höchst complicirten besonderen Unterricht dennoch gelingt, eine articulirte und tönende Sprache zu erzielen? Sie beweisen nur, dass directe Verbindungen der optischen und Tastsinnesgebiete mit dem Orte der Sprachbewegungsvorstellungen existiren, und dass sie eventuell hinreichen können, um den normalen Sprachvorgang zu ermöglichen. Die Thatsache, dass bei gänzlichem Verluste der Klangbilder dennoch Vieles, und zwar mitunter ganze Sätze, richtig gesprochen werden kann, liesse sich auch auf keine andere Weise erklären. Dennoch verhält es sich bei den Taubstummen, die durch geeigneten Unterricht leidlich sprechen lernen, noch ganz anders. Bei ihnen fungiren, statt der acustischen, die optischen und Tastsinnesbilder als Anfangsglieder des psychischen Reflexbogens. Ist einmal ein solcher Taubstummer im sicheren Besitze seiner Sprechfähigkeit, so kann es auch ihm [Abbildung Fig. 6.] begegnen, dass er aphasisch wird, und er wird, je nach dem Sitze des Processes, an motorischer, sensorischer und Leitungsaphasie leiden können. Aber nur bei der motorischen Aphasie des Taubstummen lässt sich der Sitz des Processes in dieselbe Region des Stirnhirnes verlegen, welche nachgewiesener Massen beim normalen Menschen betroffen ist. Bei der sensorischen Aphasie müssen c und d, die Tast- und optischen Bilder, erloschen sein, deren anatomische Lage noch nicht genügend bekannt, aber sicher mit der I. Schläfewindung nicht iden- tisch ist. Bei der Leitungsaphasie endlich müssen die Faserzüge unter- brochen sein, welche die Stirnlappen mit dem Hinterhauptsschläfe- lappen im Mark der Hemisphäre verbinden, besonders das Bogen- bündel Burdach’s. Es wäre müssig, die Symptome dieser 3 Formen bei Taubstummen weiter auszumalen. Nur ist hervorzuheben, dass Taubstumme mit sensorischer Aphasie auch nothwendig immer

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/38>, abgerufen am 29.03.2024.